Die Rückkehr Zentraleuropas

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist heute klar: Die Bezeichnung Postkommunismus wird der Vielfalt der Gesellschaften in den Staaten des Realsozialismus nicht gerecht. Einige Hypothesen zu den Ergebnisse einer Transformation Von Jacques Rupnik

Betrachtet man heute, zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, die politische Landkarte nach dem Kampf der politischen Systeme, unterscheiden sich die Verhältnisse in Zentral- und Südosteuropa eklatant. Zentraleuropa ist eine echte „Erfolgsstory“ des demokratischen Wandels geworden.

Auf dem Balkan dagegen verlief die Entwicklung zeitweilig tragisch. Russland, auf der Suche nach einer postimperialistischen Identität, taumelt hin und her zwischen ökonomischen Katastrophen und Versuchen, das alte Regime zu restaurieren.

In seinem Essay „Betrachtungen über die Revolution in Europa“ benannte Ralf Dahrendorf drei Phasen des Wandels, die unterschiedlich lange dauern: politische Demokratie und Gesetzgebung (sechs Monate), Anpassung an die Marktwirtschaft (sechs Jahre) und Entstehung der Zivilgesellschaft (sechzig Jahre).

Heute kann man einwenden, dass die politischen Eliten in Zentraleuropa bereits nach einem Jahrzehnt alle wesentlichen Ziele erreicht haben: parlamentarische Demokratien wurden etabliert, ein verfassungsmäßiges Gerüst errichtet. Seit Einführung der Marktwirtschaft wird inzwischen mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts in der freien Wirtschaft erarbeitet. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch mit einem Netzwerk von regierungsunabhängigen Organisationen.

Dieses Bild ist nicht nur ein Kontrast zur früheren Sowjetunion – mit der baltischen Ausnahme von der Regel – , sondern auch zu den Balkanländern. Das extremste Beispiel eines tragisch verfehlten Übergangs ist das ehemalige Jugoslawien. Nach dem Krieg und dem Auseinanderbrechen der Föderation in einzelne Nachfolgestaaten steht deren Rechtmäßigkeit und Überlebensfähigkeit immer noch in Frage. Die Rechtmäßigkeit des territorialen Rahmens bleibt jedoch erste Voraussetzung für einen demokratischen Wandel.

Definiert man den wesentlichsten Unterschied zwischen Zentraleuropa und Südosteuropa als den zwischen konsolidierten und „intoleranten“ Demokratien, dann befinden sich Rumänien, Bulgarien und die Slowakische Republik an einem Punkt dazwischen. Diese Unterscheidung hat außenpolitische Konsequenzen, denn sowohl Nato als auch Europäische Union fordern demokratische Verhältnisse als Beitrittskriterien ein. Die Trennung zwischen denen, die dazu gehören, und denen, die bei der Erweiterung euro-atlantischer Bündnisse außen vor bleiben, umreißt den aktuellen Stand der politischen Verhältnisse.

Mehr als der konkrete Ablauf des Zerfalls 1989 scheint es sich langfristig auszuwirken, wie tief und nachhaltig der Kommunismus die osteuropäischen Gesellschaften geprägt hat. Die strengsten Perioden totalitärer Herrschaft konzentrierten sich auf die Balkanstaaten Rumänien, Bulgarien und Albanien. Die drei größten Krisen des Kommunismus auf dem Balkan – 1948 der Bruch Josip Broz Titos mit Stalin, 1961 Enver Hoxhas Abkehr von Moskau, 1968 Nicolae Ceausescus Unabhängigkeitsbestrebungen – belasteten die Autonomie der nationalen kommunistischen Apparate gegenüber Moskau, während sie die totalitären Merkmale der Regime verstärkten. Der Ursprung des „Nationalismus als der ersten Stufe des Kommunismus“, wie Adam Michnik definierte, entspringt auf dem Balkan vor allem dem Erbe Titos, Hoxhas und Ceausescus.

Auch der Kommunismus in Zentraleuropa erlebte drei Hauptkrisen – 1956 die Ungarische Revolution und die Unruhen in Polen, 1968 die Reformbewegung in der Tschechoslowakei, 1980/81 die Solidarnosc-Bewegung in Polen. Die Wiedergeburt der Zivilgesellschaft in Zentraleuropa geht zurück auf diese drei Krisen und auf die Dissidentenbewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Zugleich gründet das Entstehen neuer politischer Eliten in Zentraleuropa auf der Existenz einer organisierten Opposition. Weil es in Osteuropa keine Opposition gab, wurden die ersten Wahlen durchweg von exkommunistischen Parteien gewonnen.

„Keine Bourgeoisie, keine Demokratie“ – das Zitat von Barrington Moore hinsichtlich des sozialen Ursprungs von Diktatur und Demokratie bietet den zweiten Anhaltspunkt für eine vergleichende Betrachtung Zentral- und Südosteuropas.

Eine Rolle spielte, inwieweit Wirtschaftsreformen in der Periode des Zerfalls des Kommunismus vorangetrieben wurden. Ungarn und Polen lagen dabei klar an der Spitze, während Rumänien aufgrund ideologischer Orthodoxie ganz hinten rangiert. Augenfälligster Gegensatz ist der zwischen jenen, die nach 1989 radikale Marktreformen einführten – bekannt auch als Schocktherapie in Polen –, und jenen, die wie Bulgarien einen allmählichen Übergang vorzogen.

Die Ergebnisse sind deutlich an der Größe der Privatwirtschaft, am Außenhandel, an Wachstumsraten und nicht zuletzt an ausländischen Investitionen abzulesen. Neue Mittelklassen entwickelten sich mit dem Durchbruch des Informationszeitalters und der Expansion des Dienstleistungssektors, die „Humankapital“ und einen hohen Bildungsstandard belohnen. Die Entwicklung dieser neuen Mittelklasse sowie die Konversion ehemaliger Funktionäre zur neuen Bourgeoisie bilden das Rückgrat der Marktwirtschaft in Zentraleuropa.

Die Ergebnisse werden auch durch die Entwicklung der Zivilgesellschaft bedingt, ohne die der demokratische Wandel keinen tragfähigen Boden hat, wie Dahrendorf argumentiert. Der Begriff des demokratischen Wandels, der mit den Dissidentenbewegungen Ende der Siebzigerjahre aufkam, hat in den letzten zwanzig Jahren verschiedene Definitionen in Zentral- und Osteuropa durchlaufen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kristallisierten sich zwei Hauptrichtungen heraus. Die erste, die vorwiegend von rechten Liberalen in Zentraleuropa vertreten wird, neigt zu einem Konzept der „ökonomischen Revolution“ mit einer Zivilgesellschaft als „Bürgergesellschaft“. Priorität hat die Marktwirtschaft, aus der heraus sich alles andere entwickeln soll. Im Denken des früheren tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus ist einfach kein Platz für die Idee der Zivilgesellschaft.

Die zweite Definition der Zivilgesellschaft, die Linksliberale bevorzugen, trennt den Begriff völlig von der Marktwirtschaft und deckt sich weitenteils mit dem so genannten dritten Sektor der Nichtregierungsorganisationen (NGO). Sie sind per definitionem doppelt rein: Sie lassen sich weder durch politische Macht noch durch Geld korrumpieren.

Die Zivilgesellschaft marktwirtschaftlicher Prägung ist entwickelter in Zentraleuropa. In Südosteuropa spielen die NGOs eine größere Rolle, sie kompensieren sowohl die Schwäche der Mittelklasse als auch der Opposition.

Über Erfolg oder Scheitern des demokratischen Wandels entscheidet zweifellos die Entwicklung des Rechtsstaates. In diesem Zusammenhang ist das Erbe des österreichischen Kaiserreichs im Gegensatz zu dem des Osmanischen Reiches ein wichtiger Faktor. Das Habsburger Haus war sicher keine liberale Demokratie, aber es war auch keine Autokratie wie das zaristische Russland. Es war ein Rechtsstaat.

Diese Tradition, die einige zentraleuropäische Staaten teilen, hat den Niedergang des Kaiserreichs überlebt. Spuren davon finden sich im Rechtswesen, der Verwaltung und in der politischen Kultur in den Ländern Zentraleuropas. Die Neunzigerjahre bestätigen diesen Trend, der ein Hauptkriterium in der Einschätzung möglicher EU-Beitrittskandidaten wie Polen, Tschechien und Ungarn ist: die Fähigkeit der Kandidaten, nicht nur die Normen der Europäischen Union zu übernehmen, sondern sie auch umzusetzen und voranzutreiben.

Die Rückkehr der Demokratie nach 1989 war untrennbar von der Rückkehr der Nation: Volkssouveränität und nationale Souveränität waren nicht mehr zu unterscheiden.

In dieser Hinsicht knüpften die Bewegungen des Jahres 1989 an die Traditionen von 1848 und 1918 an: an die Idee, dass der Nationalstaat den natürlichen und passenden Rahmen für die Demokratie darstellt. Der Untergang des Föderalismus sowjetischer Bauart scheint diese Überzeugung zu bestätigen. Doch das Bindeglied zwischen Nation – Souveränität – Demokratie kann auf zweierlei Weise wirken, wie im ehemaligen Jugoslawien zu sehen. Der ungarische Historiker Istvan Bibo hat dieses klassische Dilemma in seinem Essay „Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei“ beschrieben: „Faschismus existiert im Keim überall dort“, wo das Anliegen Nation vom Anliegen der Freiheit als getrennt betrachtet wird. Diese Angst, die in Freiheit und Demokratie eine „Bedrohung für die Sache der Nation“ sieht, war zweifellos ein wichtiger Faktor, der seit 1989 für einen Stillstand in der demokratischen Entwicklung auf dem Balkan und in Osteuropa gesorgt hat.

Eine These bringt die geringe Bedeutung der nationalen Frage im demokratischen Prozess Zentraleuropas damit in Verbindung, dass diese Staaten heute viel homogener sind als jene Südosteuropas. Polen ist heute, verglichen mit der Vorkriegssituation, als ein Drittel der Bevölkerung aus Minderheiten bestand, ein homogener Staat. Der Traum der nationalistischen Rechten von der endecija erfüllte sich mit Hilfe Hitlers und Stalins unter dem Kommunismus. Ebenso in der Tschechischen Republik: ohne Juden, Deutsche und nun auch ohne Slowaken. In Kürze: Was ist der Unterschied zwischen Zentraleuropa und dem Balkan? Fünfzig Jahre. Der Hauptunterschied zwischen Zentral- und Südosteuropäern ist nicht, dass die Mitteleuropäer etwa toleranter oder pluralistischer wären, sondern dass ihre „ethnische Säuberung“ vor einem halben Jahrhundert stattfand, während in den Balkanstaaten der Prozess zum „homogenen“ Nationalstaat jetzt passiert. Das ist jedoch, wie Ernest Gellner feststellte, eine Beschreibung, keine Vorschrift, und es wäre absurd zu behaupten, dass ethnische Homogenität die Voraussetzung für Demokratie ist.

Das am häufigsten gebrauchte, aber auch missbrauchte Argument über kulturelle Faktoren demokratischer Politik geht zurück auf Max Webers klassische These über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05). Die Bilanz des Wandels in Zentral- und Osteuropa wirft die Frage auf: Besteht ein Zusammenhang zwischen der Konsolidierung der Demokratie und westlichem Christentum (Zentraleuropa) sowie zwischen den Schwierigkeiten des demokratischen Wandels und Orthodoxie (Südosteuropa)?

Die Webersche These wurde aufgeladen durch Samuel Huntingtons These vom Clash of civilisations, dem Kampf der Kulturen. Sie wurde bei der Interpretation des Bosnienkrieges benutzt und missbraucht. Glücklicherweise können wir am Beispiel der Slowakischen Republik und Kroatiens Huntingtons These widerlegen. Die Slowakische Republik ist auf dem Weg zurück zum zentraleuropäischen Modell, seit Vladimir Meciar im September 1998 die Wahlen gewann. Alles, was man angesichts der aufgeladenen Debatte tun kann, ist: kulturellen Determinismus vermeiden und als irreführend oder politisch gefährlich verwerfen, besonders wenn er sich auf religiöse Dimensionen beschränkt. Und darauf verzichten, aus moralischen Gründen Max Webers klassische These zum Tabu zu erheben.

Historisch argumentiert kann behauptet werden, dass das Umfeld Zentraleuropas nach 1989 außerordentlich günstig für einen demokratischen Wandel war: Erstens war Russland geschwächt; zweitens Deutschland wiedervereinigt, ökonomisch stark, demokratisch und verankert in zwei westlichen Bündnissen; drittens gibt es keine herausragenden regionalen Konflikte zwischen den Staaten der Region – ein gravierender Unterschied zur Situation zwischen den beiden Weltkriegen. Ungarn hat Verträge mit seinen Nachbarn Slowakien und Rumänien unterzeichnet. Polen war sofort bereit, die Áutonomie der Ukraine und Litauens zu akzeptieren, und handelt stabilisierend gegenüber seinen osteuropäischen Nachbarn. Die tschecho-slowakische Scheidung war eine samtene, verglichen mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens.

Diese Unterschiede geben den Ausschlag für die euro-atlantische Integration, das zentraleuropäische Zauberwort für die Erweiterung der Nato und der EU, das Hauptziel der außenpolitischen Bestrebungen der neuen Demokratien. Beide Bündnisse bestehen auf demokratischen Bedingungen.

Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer scheinen Nato und EU gegenüber Zentraleuropa eine Politik der Integration zu betreiben, während sie gegenüber dem Balkan eine Haltung von Intervention oder In-Schach-Halten einnehmen. Kein Balkanland erfüllt derzeit die Erweiterungskriterien von Nato oder EU.

Um die zentraleuropäische Erfolgsstory nicht zu gefährden, sollte kein neuer Eiserner Vorhang errichtet werden, der Zentral- und Südosteuropa trennt. Es ist von äußerster Wichtigkeit für die Zukunft, dass Europas demokratisches Projekt die Grenzen der Union formt und nicht vorgeprägte historische oder kulturelle Vorurteile.

Jacques Rupnick ist Forschungsdirektor am Pariser Centre d‘Etude et de recherche international. Aus dem Englischen von Christine Apel