Die neuen Festungen Europas

Während der Achtzigerjahre dachten die intellektuellen und ökonomischen Eliten des reichen Europas, dass nationalstaatliche Grenzen absehbarerweise überflüssig werden. Ethnische Konflikte, nationalistische Eruptionen, Kriege um Blut und Boden galten als hoffnungslos gestrig. Die Ereignisse nach der Wende seit 1989 haben diesen Hochmut Lügen gestraft   Ein Essay von Christian Semler

Wer in den Achtzigerjahren die beiden Teile Berlins besuchte, dem konnte unmöglich entgehen, ein wie diametral entgegengesetztes Bild die beiden Seiten der Mauer boten. Auf westlichem Gebiet ein Endlosgraffiti, eine von der DDR kostenlos zur Verfügung gestellte Fläche bunter Selbstinszenierung. Auf der östlichen Seite der abgeschirmte Horror, nur an wenigen Stellen unterbrochen von realsozialistischen Verschönerungsmaßnahmen. Vom Bezirk Kreuzberg aus gesehen grenzte die Mauer eine selbstgenügsame Idylle ein. Ab und zu öffnete sich unerwartet eine Tür und die Grenzpolizei griff sich einen verdutzten Graffitikünstler. Das war aber das Unangenehmste, was einem auf der westlichen Seite des Bauwerks widerfahren konnte. Und wie es auf östlichen Seite aussah und was dort geschah, davon wollten die Westberliner nichts allzu Genaues wissen. Erst seit der Beseitigung von Mauer und Stacheldraht sind wir von der Normalität des Lebens im östlichen Teil der Metropole unterrichtet.

Je länger die Grenzbefestigung in Deutschland währte, je mehr sich ihr Anblick veralltäglichte, als desto peinlicher empfand man Anklagen gegen sie. Geglückte Fluchten von DDR-Bürgern wurden eher unter sportlichen Gesichtspunkten registriert. Der Eiserne Vorhang ward nur noch bei Passkontrollen wahrgenommen, als lästige Pause, etwa der Zeit in einem Stau vergleichbar. Dieser Wunsch, sich einzurichten, entsprang der Gewöhnung. Er war die Kehrseite der Segnungen, die die Ostpolitik Willy Brandts den Einwohnern Westberlins seit Ende der Sechzigerjahre gebracht hatte.

Damit allein ist aber nicht erklärbar, warum die innerberliner wie innerdeutsche Grenze so sehr dem Blickwinkel der Westdeutschen entschwand. In der wachsenden emotionalen Distanz zur politischen Substanz der Grenze drückte sich Allgemeineres aus: Der deutsche Nationalstaat, ob in der Form der BRD oder als Idee eines vereinten Deutschland, hatte an Attraktivität eingebüßt. Politische Soziologen sahen in den Achtzigerjahren den Nationalstaat in der Zange, eingequetscht zwischen der Hinwendung zur heimatlichen Region einerseits, zum geeinten (West-)Europa andrerseits.

Diese „postnationale“ Konstellation veränderte auch das räumliche Denken. Zwischen Ost- und Westeuropa wurde in erster Linie eine Systemgrenze angenommen, unterhalb derer die alten Staatsgrenzen verschwammen. Der Eiserne Vorhang galt als Metapher, obwohl er tatsächlich existierte. Wer wusste in der Bundesrepublik damals noch, daß Prag westlich von Wien liegt? Für die politische Analyse schien die Geografie entbehrlich. Und dies umso mehr, als geografische Erklärungsmodelle seit der nazistischen „Geopolitik“ gründlich diskreditiert waren. In Westdeutschland und in Westberlin lebte ein „Volk ohne Raum“, und es lebte wirklich nicht schlecht.

Zweier Weltkriege eingedenk sah man Grenzen als obsolet an. Es galt, sie möglichst rasch abzubauen. Daß dies nicht nur die Ansicht der Linken war, bewies schon der junge Helmut Kohl, als er einen Schlagbaum an der französisch-pfälzischen Grenze attackierte. Grenzkonflikte wurden der Erbschaft der kolonialen Ära zugerechnet und in der Dritten Welt lokalisiert. Mit dem Hochmut derer, die gerade das Völkergemetzel hinter sich gelassen hatten, galten Grenzen als einer minderen Zivilisationsstufe zugehörig.

Der Einsturz des sowjetischen Hegemonialreichs, wenig später jener Jugoslawiens, demonstrierte das Trügerische dieser Hoffnungen. Vor den Augen ebenso konsternierter wie handlungsunfähiger westlicher Politiker stand das Totgeglaubte wieder auf: ethnische Homogenisierung statt Staatsbürgerschaft, Heiligung des Heimatbodens statt demokratischer Föderation, Feind und Freund voneinander scheinbar biologisch trennt.

Was sich in Ost- und Südosteuropa ereignete, stand allerdings in der späten Nachfolge der europäischen Nationwerdung. Mit wenigen Ausnahmen waren in der westlichen Hemisphäre die Bildung von Nationalstaaten und deren ethnische Vereinheitlichung Hand in Hand gegangen, zumindest wurde die Angleichung von Minoritäten an die Kultur des herrschenden Staatsvolks durchgesetzt. Der vom führenden Staatsvolk dominierte Nationalstaat als Modell setzte sich auch durch, als nach dem Ersten Weltkrieg die drei transnationalen Großreiche, das Habsburgische, das Russische und das Osmanische, auseinanderbrachen. Jede neue Nation, selbst eine demokratisch verfasste wie die Tschechoslowakei, nutzte die Mittel der Staatsgewalt, um die jeweiligen Minderheiten zu ducken.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit trieben auf Grund erzwungener Völkerwanderungen die Homogenisierung innerhalb der realsozialistischen Staaten voran. Wovon nicht nur die Deutschen in Ost- und Südosteuropa betroffen waren, sondern auch die Polen jenseits der neuen Ostgrenze oder die Ungarn in Jugoslawien. Wo Minderheiten verblieben, dienten sie im Grenzraum keineswegs als Brücke zum Nachbarn – im Gegenteil. Die Ungarn im rumänischen Siebenbürgen wurden vom ehemaligen Mutterland ebenso abgeschottet wie die polnische Minderheit in Weißrussland.

Wo „Freundschaftsgrenzen“ bestanden, wie an der Oder zwischen Polen und der DDR, wurde bei der ersten ernsthaften Krise, wie 1980, die Visumpflicht wieder eingeführt. Generell läßt sich sagen, dass die osteuropäischen Grenzen für die Bevölkerungen der „Bruderländer“ schwerer passierbar waren als für Westtouristen, vor allem bei Besuchswünschen ins Mutterland der Werktätigen. Die Grenze blieb durchlässig, historische Belastungen im Grenzraum schliffen sich nicht ab durch Handel und Wandel, Freundschaften und Heiraten. Sie wurden stillgelegt, um im Kollektivgedächtnis der Völker weiterzuexistieren.

Wo Staatenföderationen bestanden, in Gestalt der Sowjetunion oder in Jugoslawien, wurde die ehemals dominierende Staatsnation zwar formell zurückgestutzt, aber de facto hielten Russen in der Sowjetunion und Serben in Jugoslawien die Kommandoposten im Staatsapparat und in der Ökonomie. Wo aber Versuche einer wirklichen Föderalisierung unternommen wurden wie im Jugoslawien der späten Titozeit, fehlten demokratische Institutionen, in denen Konflikte gelöst und unterschiedliche ökonomische Intereressen ausgeglichen werden konnten. Die Politik Stalins hatte verhindert, dass 1945 eine Föderation der Balkanvölker errichtet wurde. Dieser Bund wäre das Heilmittel für zwei zentrale Grenzkonfliktzonen gewesen: das Kosovo und Makedonien. So aber wurde die jugoslawisch-albanische Grenze zum Sperrriegel.

Das Europa vor der Konsolidierung der Nationalstaaten hatte die Idee einer linearen, quasi geometrisch darstellbaren Staatsgrenze ebenso wenig gekannt wie die Vorstellung von natürlichen, durch Flüsse, Gebirge oder das Meer gebildeten Grenzen. Mit der Bildung einheitlicher Wirtschaftsräume gewannen diese Grenzen Schutzfunktion für die sich entwickelnde kapitalistische Produktionsweise. Das Kapital, wiewohl seiner Substanz nach international, bedurfte dieser nationalen Form. Heute aber sieht es ganz so aus, als ob die nach 1989 neu erstandenen Nationen alle Vorteile neuzeitlicher Grenzziehung eingebüßt, sich aber dafür alle Nachteile eingehandelt hätten.

Es wäre aber verfehlt, das Bedürfnis nach klaren Grenzziehungen im ehemaligen Jugoslawien oder den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lediglich auf das Konto eines atavistischen Rückfalls zu schreiben, quasi als politische Regression zu analysieren. Die Begründung republikanischer Institutionen hat sich in Europa stets innerhalb nationaler Grenzen vollzogen. Das reiche Europa kann deshalb sehr wohl Einfluss nehmen, was den Aufbau demokratischer Organe in den neuen Staaten anbetrifft, kann aber deren Existenz als Nationalstaaten nicht einfach überspringen.

Die Europäische Gemeinschaft (EU) muß sich einer Aporie stellen: Einerseits wollen die neu gebildeten Staaten ihre „Identität“ aufbauen. Mit gleichem Selbstbewusstsein aber wollen sie fast alle der EU beitreten, was die Preisgabe wichtiger Elemente der soeben errungenen Souveränität einschlösse. In diesem Prozess wird es darauf ankommen, wie die EU selbst den Widerspruch von Souveränitätsgewinn und Verlust bearbeitet.

Es ist vor allem eine moderne Grenze, die hier die größten Probleme verursacht – die „Schengener Grenze“, das Abwehrinstrument der reichen Industriestaaten Europas gegenüber dem Ansturm der Habenichtse. Diese Grenze ist Ausdruck des ökonomischen Ungleichgewichts innerhalb Europas und zugleich dessen polizeilich-bürokratische Antwort der EU. Neues Mitglied der EU kann nur werden, wer alle Durchführungsbestimmungen des „Schengener Abkommens“ übernimmt. Weshalb die Beitrittskandidaten vor einer fatalen Aufgabe stehen. Sie müssen ihrer Funktion als Außengrenze der EU gerecht werden und dies noch vor dem Beitritt. Das bedeutet beispielsweise für das Verhältnis Polens zur Ukraine oder zu Weißrussland, dass durchlässige Grenzen – unbedingte Voraussetzung, um die Last der Geschichte zu bewältigen – wieder abgeschafft werden müssen. Es bedeutet darüber hinaus, daß der Grenzraum zum Aktionsraum der Polizei wird, statt zu einer osmotischen Zone. Die Schengener Grenze mit ihren territorial tief gestaffelten Kontrollinstrumenten wird nicht verhindern, dass Arbeitsmigranten en masse in die EU strömen. Aber sie wird verheerende Auswirkungen auf alle Versuche haben, die politischen Beziehungen zu nicht der EU angehörenden Staaten zu stabilisieren.

Um diesen Effekten entgegenzuwirken, haben sich die Beitrittskandidaten bemüht, in ihrem östlichen Bereich Regionen nach dem Vorbild der EU zu bilden. Diese Regionen leiden an jenen dreifachen Gebrechen, die nach wie vor auch die Euroregionen an Oder, Neiße, Bober und im tschechisch-polnisch-deutschen Grenzraum behindern. Sie sind politisch machtlos, weil sie nur den Direktiven ihrer Regierungen folgen. Sie verfügen über keinen gesellschaftlichen Unterbau, keine kommunalen Netzwerke der Schulen, der Betriebe oder der Öffentlichkeit, und sie verfügen drittens über keinerlei finanziellen Mittel. Die zur Verfügung gestellten Gelder dürfen ausdrücklich nicht an der zukünftigen Ostgrenze der EU eingesetzt werden. Dafür fließen die Mittel für die künftigen Grenzkontrollen umso reichlicher.

Allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz bildet das Territorium jenseits der künftigen östlichen EU-Außengrenze ein unbekanntes Terrain, von dem die Einfälle der Barbarenstämme drohen. Daher die Notwendigkeit des Limes. Also doch: Festung Europa?

Christian Semler, 60, seit mehr als zehn Jahren Autor der taz, lebt in Berlin und fährt öfter und gern in den sogenannten ehemaligen Ostblock