: Rättchens Mondfahrt
Melancholie und Müllsäcke: Lynne Ramseys Debüt „Ratcatcher“ auf dem Filmfest ■ Von Tim Gallwitz
Sponsoring genießt in der Kulturbourgeoisie einen verheerenden Ruf. Unter dem Verdacht stehend, er nehme Einfluss auf's künstlerische Produkt, zumindest aber mehre er durch es seinen Profit in Sachen Image, gleicht der Sponsor dem Beelzebub, mit dem der kommunale Sparteufel exorziert wird. Um von den Affekten elitärer Konsumenten gar nicht zu sprechen, denen gesponsorte Kunst als zu „Mainstream“ mindestens suspekt – oder schlimmer: gleichsam faustisch ihre Seele verhökernd – geradezu als schwarze Kunst gilt.
In der tesafilm-Reihe sind Festival und Global Player vereint, Filmfest wie Klebestreifen als „internationale Marken auszubauen“. Na, wenn's denn hilft, geschenkt. Und das Mainstream-Verdikt sticht nicht, sind die Filmstreifen doch allesamt Debüts, ihre Regisseure mithin nicht bereits erfolgreich am zahlungskräftigen Publikum erprobt. Und so erfüllt diese Sektion eine der vornehmsten Aufgaben solcher Veranstaltungen, nämlich kleine Produktionen zu exponieren, die ihrer „Entdeckung“ harren und nicht sowieso zwei Wochen später groß gefeatured ihren Kino-Auftritt haben.
Eine Entdeckung dieser Art ist Ratcatcher. Eine Armensiedlung im Glasgow der 70er Jahre. Die Müllabfuhr streikt, Massen von Plastiksäcken liegen herum, Ratten tummeln sich. Ratten, mit denen mal gespielt , die mal erschlagen, mal zum Mond geschickt werden und die das Sozialleben in der Siedlung spiegeln – dass Rättchens Mondfahrt den Badlands-Soundtrack zitiert, gereicht im Übrigen zu besonderer Freude. Als der elfjährige, segelohrige James seinen Freund Ryan beim verspielten Streit in den Kanal hinterm Haus schubst, ertrinkt der, und James spürt Schuld. Schuld, die er nicht kommuniziert und die ihn trennt von seiner Familie, besonders vom Vater, von den Freunden. Nur mit Außenseitern knüpft er sachte Verbindungen, zum kleinen Kenny, dem Tiere Menschen ersetzen, zur 14-jährigen Margaret Anne, die den Local Boys als Spott- und Sexobjekt dient, bei der James aber Wärme und Zärtlichkeit erfährt.
Versuche, sein Anliegen zu erklären, unternimmt Ratcatcher nicht – seine Bilder verraten mehr als ihre Protagonisten sprechen. Der Bildaufbau, weniger die Narration oder Montage, macht das Innenleben der Personen sichtbar mit all ihren Auswegen und Sackgassen. Entsprechend sieht der für's Filmfest angereiste Produzent Gavin Emmerson die Regisseurin Lynne Ramsay eher in kontinentaleuropäischer Auteur-Tradition, denn im britischen Kino verankert. Und die Vergleiche mit Ken Loachs Frühwerk Kes (1969) treffen zwar die soziale Lage, gehen stilistisch aber vorbei. Beinharter Realismus ist Ramsays Sache nicht, deren „understated symbolism“ gerahmte Blicke auf die Poesie des Alltags wirft, ohne sich in gefühligen oder kryptischen Sphären zu verirren.
„The composition is the key“, so Emersons Einschätzung von Ratcatcher. Und in der Tat: Wenn die Kamera James' Füße in den Ausschnitt nimmt, als er die ungeliebten neuen Schuhe „mit einer Scherbe tragbar macht“, wenn die Kamera, frei werdend, die Begrenzung eines Festerrahmens und James selbstvergessen auf einem lichten Feld beobachtet, wenn die Familie beim Fernsehabend zu „What's new, Pussycat“ von Tom Jones den Jive tanzt, alle im Bild, nicht, wie meist, allein – dann ereignet sich Verstehen, ohne dass Worte fallen müssen.
Ein Film, wie gemacht für Herbstabende, oder, wie schottische Kritiken empfehlen, für Sonntagnachmittage. Ob Ratcatcher einen deutschen Verleih findet, ist bis dato nicht klar. Am Herbstsonntagabend ab ins Kino – die Tesastreifen gibt's vom Sponsor gratis dazu.
So, 3. 10., 20 Uhr, Zeise 2
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