Der Marquis im Glascontainer

■ Das Theater „e1ns“ spielt Javier Tomeo in den Sophiensælen

Was eigentlich spielt sich eigentlich im Innern eines Altglascontainers ab? Das ist eine der Fragen, die uns lange schon schlaflos im Bett auf und ab marschieren lassen. Dank der Theatertruppe „e1ns“ und ihrer Produktion „Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief“ sind wir der Antwort ein gutes Stück näher gekommen: Im Inneren der Altglascontainer hausen die abgedankten Eliten Europas. Je nach nationaler Provenienz säuberlich getrennt in den Behältnissen für Weiß-, Braun- und Grünglas, nehmen wir an. Sicher wissen wir nur: Altspanische Franquisten treffen sich im Grünglas.

Im Glascontainer (Ausstattung: Stefanie Bürkle) in der alten Kegelbahn der Sophiensæle sitzt der Marquis O. Er ist schon recht angegangen und schimmert grünlich. Die Zuschauer sitzen auch im Grünglas. Was die ins Erkenntnistheoretische spielende Frage aufwirft: ob vielleicht die ganze Welt im Container sitzt und es nur noch nicht bemerkt hat?

Der Marquis im Grünglas glaubt das nicht. Inmitten seines Scherbenhaufens fragt er sich, was wohl die Menschen draußen machen. Dies zu erkunden, hat er einen Brief geschrieben. Mikroskopisch klein, aus einem einzigen Wort bestehend, in dem zu allem Überfluss, die Umlaute durch den Buchstaben „I“ getarnt sind. Das ist eigenwillig und wohl auf zu langes Leben im Glascontainer zurückzuführen. Der Brief soll, wie die meisten Briefe, die Welt verändern. Deshalb kommt alles darauf an, dass er seinen Adressaten in einem benachbarten Grünglascontainer erreicht.

Mit seinem Diener Bautista unterhält sich der Marquis über die Probleme der Postübermittlung. DieUnterhaltung ist allerdings eher ein Monolog, verteilt auf zwei grüne Schauspieler im Grünglas. Der ganz nebenher letzten Fragen nachsinnt – wie dem Liebesleben der Glühwürmchen, dem großen Tag der Eintagsfliege und der Frage, ob Frösche fundamental sind. Erschwerend kommt hinzu, dass, wenn die Welt erst einmal in Scherben gefallen ist, auch die Identitäten ungewiss werden. Weshalb der Marquis und Bautista, Hegels Herr und Knecht lassen grüßen, von Zeit zu Zeit die Rollen wechseln.

Merkwürdigerweise ist der Schauspieler Detlef Lutz als Marquis im Container ein Wiedergänger des berühmten Schauspielers Gert Voss. Wie dieser trägt er seine Worte in den Backentaschen mit sich und kultiviert einen leichten „A“-Tick. Er stürzt, sprachtechnisch gesehen, auf alle A-Laute zu und reißt, hat er sie erst erreicht, die Augen weit auf. Das ist schön. Auch sein Diener Bautista, Bernd Ludwig, ist angeschimmelt und ein Sprechkünstler. Mit sonorer Stimme lässt er kleine runde Wortkugeln fallen oder setzt Worte wie zierliche Gondeln auf die plätschernden Wellen seiner kultivierten Sprachmelodie. Ein Genuss.

Unter den Zuschauern saß bei der Premiere auch eine Abordnung der spanischen Botschaft. Sie hat die theatrale Unternehmung mit dem Text ihres Landsmannes Javier Tomeo mäzenatisch gefördert. Weil es Regisseur Christian Barthelmes gelungen ist, für alle von der Kulturverwaltung Verstossenen den Weg zu neuen Fleischtöpfen aufzuzeigen, ist er uneingeschränkt zu loben. Nikolaus Merck

Sophiensæle, 1. – 3., 8., 9., 15. – 17., 22. – 25., 29. – 31.Oktober, jeweils 20.30 Uhr