Christa und Doris telefonierten lange“

■ Wählerbetrug und Neoliberalismus: Auszüge aus Lafontaines Buch „Das Herz schlägt links“

... Nach meinem Rücktritt hat die Politik der rot-grünen Koalition eine Entwicklung genommen, die ich nicht für möglich gehalten hätte und die mich mit großer Sorge erfüllte. Dass ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland sich zum ersten Mal an einem Krieg beteiligte, der das Völkerrecht missachtete und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war, ist schwer zu verkraften. (...)

Spätestens als am 8. Juni 1999 kurz vor der Europawahl in London das Schröder/Blair-Papier vorgestellt wurde und Hans Eichel sein Zukunftsprogramm 2000 vorlegte, fühlte ich mich herausgefordert. Wir hatten mit dem Versprechen (...), mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land zu verwirklichen, die Wahl gewonnen.

Gerhard Schröder distanzierte sich vier Monate nach meinem Rücktritt von meiner Finanzpolitik: „Ich denke schon, dass es sehr richtig gewesen wäre, Eichels Finanzpolitik von Anfang an zu machen.“ Und: „Wenn das als Kritik verstanden wird, dann ist das auch so gemeint.“ (...)

Über mangelnde Fairness und Wahrhaftigkeit mir gegenüber könnte ich hinwegsehen, schweigen kann ich aber nicht, wenn das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler durch einen politischen Richtungswechsel missbraucht wird. Mein Buch wendet sich daher gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zum Neoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen. (...)

Ich hatte die Parole ausgegeben, dass wir zuerst die Koalitionsvereinbarung zu Stande bringen und dann die endgültige Verteilung der Ämter und Funktionen vornehmen sollten. Aber die Bundestagsfraktion hielt sich nicht daran. (...) Dazu kam, dass Rudolf Scharping entgegen unseren Vereinbarungen schon vor der Bundestagswahl daranging, bei den Abgeordneten und bei der Presse dafür zu werben, dass er das Amt des Fraktionsvorsitzenden behielte. (...)

Ich hatte daran gedacht, für den Fall, dass die Bundestagsfraktion eine Frau als Bundestagspräsidentin akzeptiert hätte, Franz Müntefering für das Amt des Fraktionsvorsitzenden vorzuschlagen.(...) Die Hartnäckigkeit Rudolf Scharpings machte diese Pläne zunichte. Hier war die Autorität des Parteivorsitzenden gefordert. Ich bat Rudolf Scharping zu einem Gespräch und teilte ihm mit, dass ich seine Vorgehensweise als Bruch unserer Absprachen ansehen müsse. Abgesehen davon sei ich nicht der Auffassung, dass er in der jetzigen Konstellation der geeignete Fraktionsvorsitzende sei. (...)

Meine Argumente beeindruckten Rudolf Scharping nicht. Er blieb dabei, dass er als Fraktionsvorsitzender kandidieren werde. So war ich gezwungen, zum letzten Mittel zu greifen und anzukündigen, dass ich in diesem Fall mich ebenfalls um dieses Amt bewerben würde. (...) Scharping zog zurück, und es wurde die gesichtswahrende Formel gefunden, dass Schröder den Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping gebeten habe, ins Kabinett einzutreten. (...)

Ich hatte während des Wahlkampfs die Zustimmung Gerhard Schröders, dass Franz Müntefering Chef des Bundeskanzleramts werden sollte. Nach einer gemeinsamen Sitzung, in der es um die Festlegung der Plakate ging, die wir im Endspurt des Wahlkampfs kleben wollten, waren Gerhard Schröder und Franz Müntefering aber heftig aneinander geraten. Am darauf folgenden Tag erklärte mir Müntefering: „Mit dem mache ich das nicht.“

Ich schlug Gerhard Schröder daraufhin vor, Peter Struck anzutragen, Chef des Bundeskanzleramts zu werden. (...) Obwohl Gerhard Schröder zunächst maulte, „der quatscht mir zu viel“, und obwohl beide kein gutes Verhältnis zueinander hatten – Schröder hatte sich immer über das Mittelmaß in der Fraktion lustig gemacht und die Abgeordneten kritisiert, die noch nicht einmal in der Lage wären, einen Wahlkreis zu gewinnen –, stimmte er schließlich zu. (...) Unbeschadet dieser Zusage überraschte mich Gerhard Schröder eines Tages mit der Mitteilung, dass Bodo Hombach Chef des Kanzleramts werden solle. (...) Ich konnte nicht erkennen, welche besonderen Fähigkeiten Bodo Hombach für das Amt des Chefs des Bundeskanzleramts qualifizierten. (...)

Zum entscheidenden Eklat zwischen Gerhard Schröder und mir kam es (...), als es nach all diesem Gerangel um die Frage ging, wer jetzt Fraktionsvorsitzender werden soll. Peter Struck hatte rechtzeitig sein Interesse angemeldet. Aber auch der Saarländer Ottmar Schreiner, ein profilierter Sozialpolitiker der Fraktion, zeigte Interesse. (...) Als diese Bewerbung in der Presse berichtet wurde, kamen wir morgens zum üblichen Vorgespräch vor den Koalitionsverhandlungen in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung zusammen.

Gerhard Schröder kam später und machte ein Gesicht, als wolle er die ganze Welt vergiften. Er setzte sich grußlos hin. Nachdem ich das Wort weitergegeben hatte, flüsterte ich ihm zu: „Was ist denn los?“ Er antwortete: „Du willst mir den Schreiner als Fraktionsvorsitzenden unterjubeln.“ Ich erwiderte ihm, das sei Quatsch und wir müssten sofort darüber reden. Er fauchte mich an, er habe jetzt keine Lust, mit mir zu reden, und ging wortlos aus dem Raum, wie er es immer tut, wenn er zornig ist oder die Einsamkeit des großen Staatsmanns demonstrieren will. Erst mittags gelang es mir, ihn zur Rede zu stellen. Ich sagte ihm, ein zweites Mal würde ich mir eine solche Behandlung nicht gefallen lassen. Unsere Zusammenarbeit könne nur funktionieren, wenn Kameradschaft und Vertrauen die Grundlagen seien. (...)

Am späten Abend klingelte das Telefon, und Doris Schröder-Köpf war am Apparat. Sie fragte mich, was los sei. Ihr Mann sei bereits übel gelaunt zu Bett gegangen. Ich erzählte ihr von dem Streit und meiner Absicht, gar nicht erst in die Regierung einzutreten. Dann überließ ich Christa den Hörer. Die Frauen redeten lange miteinander, Gerhard Schröder wurde aus dem Bett geholt und murmelte mir gegenüber eine Entschuldigung. Schließlich gab ich das Vorhaben auf, die Bundespressekonferenz einzuberufen, um mitzuteilen, dass ich dem Kabinett Schröder nicht angehören wolle. (...) Ich wollte aus der Position des deutschen Finanzministers auf eine Neuordnung der Weltfinanzmärkte hinwirken, um die Währungsspekulationen zu bekämpfen. (...)

Ich hatte auf Schröders Bitte hin nicht darauf bestanden, dass die Wiedereinführung der privaten Vermögenssteuer in die Koalitionsvereinbarungen geschrieben wird. Ich hatte auf seine Bitte hin auch davon Abstand genommen, zu verlangen, dass die Ausbildungsplatzabgabe in den Koalitionsvertrag geschrieben wurde.

(...) Beim Zukunftsprogramm 2000 war oft zu lesen, das wäre mit Oskar Lafontaine nicht zu machen gewesen. Zwar war das von vielen Wirtschaftsjournalisten kritisch gemeint, aber ich fühlte mich geschmeichelt und von der Presse mal wieder so richtig gewürdigt. Ja, das wäre mit mir nicht zu machen gewesen.

Auszüge aus der Vorabveröffentlichung nach dpa