Stotternd bis in alle Ewigkeit

Im Kasseler Museum Fridericianum zeigt die Ausstellung „Chronos und Kairos“, wie es um den Zeitbegriff in der aktuellen Kunst bestellt ist. Manchmal sieht es nach Fluxus aus, und die Jugend treibt ihre Scherze mit den einst erhabenen Kategorien  ■   Von Aureliana Sorrento

Es surrt und saust und schnurrt wie im Kellerraum einer Fabrik. Bisweilen bricht das Getöse jäh ab, ein lang gedehnter, monotoner Klimpersatz schleicht sich ans Ohr, wird aber gleich vom Maschinengekrächze wieder übertönt. Dick Higgins' „Mechanical Music“, eine Installation aus Staubsaugern, Kassettenspieler, Föhn, Kaffeemühle und sonstigen Haushaltsgeräten, die elektronisch gesteuert an- und ausgehen, und Erik Saties „Musique d'Ameublement“ (Möbelmusik) sind das akustische Eingangsplakat zur Ausstellung „Chronos und Kairos“, die René Block im Museum Fridericianum eingerichtet hat.

1980 gab es von Block „Für Augen und Ohren“ in Berlin. Bald 20 Jahre später bildet „Chronos und Kairos“ das zweite Glied der offenbar mit Weitsicht angelegten Blockschen Ausstellungstrilogie, die nächstes Jahr ebenfalls im Fridericianum unter dem Motto „Am Anfang war das Wort“ abgeschlossen werden soll. Diesmal ist Zeit das Leitthema: Als „Gott des steten Zeitlaufs“, der an allem nagt und frisst, hieß die Zeit bei den Griechen Chronos. Den flüchtigen, beschwingten Augenblick nannten sie Kairos, was auch das richtige Maß, die gute Gelegenheit, den Vorteil bedeutet. Fluss und Einschnitt, Dauer und Zeitpunkt also – Streithähne ungleicher Kraft. Kairos macht Chronos das Leben schwer, indem er das Zeitmessen ermöglicht.

Nun brauchte sich Block nicht allzu sehr an der griechischen Mythologie zu orientieren: Will man die Eckpfeiler des heutigen Kunstbegriffs markieren, kommt man um die Kategorie „Zeit“ nicht herum. Was Happening, Performance, Video- und Filmkunst von der herkömmlichen bildenden Kunst grundsätzlich unterscheidet, ist der Einbezug der zeitlichen Dimension, die vormals Musik, Theater und Literatur vorbehalten war. Visuell? Akustisch? Bild? Ton? Schrift? Pixel? Wer redet noch davon? Crossover ist alles.

Den Motor der Entwicklung warf Fluxus an, deshalb wird in Kassel das Augenmerk erst einmal auf seine Sachwalter gelenkt. Bei einer Auswahl von 66 Künstlern ist Fluxus mit Werken von Nam June Paik, George Brecht, Robert Filliou, Wolf Vostell, Yoko Ono und Emmett Williams reichlich vertreten. Im Rampenlicht steht vor allem Stammvater John Cage. Seine Komposition 4' 33'', die jetzt als Partitur an einer Wand des Museums hängt, lädt jeden Besucher zur zigmaligen Aufführung ein: Vermerkt sind statt einer Notation drei Sätze, die aus drei Zeitlängen bestehen, während deren der Aufführende das Schweigen bewahren soll. Als 4' 33'' am 29. August 1952 von David Tudor uraufgeführt wurde, begnügte sich der Pianist mit dem Zu- und Aufklappen des Klavierdeckels. Das Publikum wurde indessen gewahr, dass es selbst der eigentliche Tonproduzent war, denn im Saal ging es immer geräuschvoller zu.

Erlebte Zeit ist Lebenszeit. Sie hat nicht nur als formale Komponente in die zeitgenössische Kunst Einzug gehalten. Oftmals sind deren Spuren in Kassel entsprechend existenziell gefärbt. Seit 1965 dokumentiert Roman Opalka die eigene Lebenszeit durch Zahlenkolonnen von eins bis infinitum. Ein Blatt mit Ziffern voll schreibend, erhebt er das an sich hinfällige Material zur bleibenden Beweisakte eines ganzen Menschenlebens. Den Augenblick registrieren bedeutet, das unaufhaltsame Fließen der Zeit wettzumachen. Auch On Kawaras datierte Telegramme mit dem Spruch „I'm still alive“, die er an seine Freunde aus allen Erdteilen schickte, schreiben existenzielle Momente fest. Vor seinem buddhistischen Hintergrund tauchen sie dennoch eher als Chiffren der Ewigkeit auf, die sich im Augenblick offenbart, denn als Zeichen des Aufruhrs gegen Stiefvater Chronos.

Einen Ausschnitt der Ewigkeit hat der japanische Künstler auch in seinem Mammutwerk „One Million Years – Past“ und „One Million Years – Zukunft“ festgehalten: Zwanzig schwarz gebundene Wälzer, in denen eine Million Jahre bis 1970 und eine Million Jahren ab 1980 verzeichnet sind, fordern die Vorstellungskraft des Besuchers heraus. Einer ähnlichen Überforderung wird man durch die Arbeit von Hanne Darboven ausgesetzt. In codierten Zahlenreihen, denen musikalische Notationen entsprechen, hält sie den Ablauf der Zeit fest. Die Kästchen, in denen ihre Zeit-Seiten eingefasst sind, nehmen im Fridericianum drei Wände ein, könnten aber unendlich weitergeführt werden. Die suggerierte Unermesslichkeit weist auf die Zeit als unfassbaren Überbegriff hin; Natur-Embleme (Fotos von Fischen und Vögeln, Dinosaurier-Silhouetten hinter den Zahlenrastern) evozieren die vergleichsweise kurze naturgeschichtliche Zeit. Die Menschheit ist durch Texte ihrer Masterminds präsent, die an den Zahlenreihen wie Zierränder entlanglaufen. Falls das Ausmaß von Darbovens Werk einen nicht schon physisch erdrückt – um es in allen Teilen wahrzunehmen, bräuchte man eine Lupe und etliche Tage Ausdauer – wird man vom Vergleich zwischen Makro-, Natur- und Menschenzeit todsicher ins Grübeln gebracht.

Nüchterner bringt Lawrence Weiner alle Zeit-Aporien auf den Punkt: „Before and after a hole in time“ steht spruchbandartig deutsch und englisch in roten Lettern auf zwei Wänden eines Saals. Im gleichen Raum verführt Mariko Mori mit einer einlullenden Melodie und technomodisch aufgetakelten Reizen auf fünf Videos den Besucher. Im Zauberkreis der Glaskugel, die sie in den Händen dreht, soll wenigstens die persönliche Erlebniszeit zur Ruhe kommen. Die jüngeren Künstler scheinen sich ohnehin über allzu erhabene Begriffe von Zeit zu amüsieren. Beschäftigt sich Asta Grötings Video noch mit dem Alterungsproblem einer Frau in den Wechseljahren, der eine Puppe eine philosophischere Sicht der Dinge entgegenhält, führt Christian Jankowski fröhlich vor, wie furchtbar es wäre, sollte die Zeit mal tatsächlich stillbleiben: In seiner „Galerie der Gegenwart“ erläutert ein pausbäckiges Kind als Galerist stotternd seine künstlerischen Vorlieben vor der Kamera.

Doch Humor ist auch bei den Youngsters nicht alles. Olaf Val etwa stellt es dem Besucher anheim, Nato-Luftangriffe, Moskauer Regierungswirren, sonstige TV-Ereignisse und Supermarktregale samt dazugehörenden Werbespots mittels eines Bildmischers ein-, aus- und durcheinander zu blenden. Per Mausclick und im Technorhythmus, versteht sich. Bis 7. 11. Museum Fridericianum, Kassel. Mi – So 10 – 18, Do 10 – 20 Uhr. Das Ausstellungsheft kostet 5 Mark an der Kasse.