■   Ein Jahr rot-grüne Regierung, und schon verstehen die Gewerkschaftskollegen ihre eigene Partei nicht mehr. Sparen, Sparen, Sparen statt sozialer Gerechtigkeit. Streit statt Einigkeit. Die Probleme in den Betrieben werden unterdessen immer größer
: Die Regierung soll wie ein Betriebsrat sein

Ach, diese Brioni-Anzüge. Eigentlich hat er nichts dagegen, kleidet sich selber doch auch gar nicht schlecht. Wenn Otto König (54) über des Kanzlers Kleider herzieht, sind diese Kleider ein Symbol. „Brioni ist der Ausdruck dessen, was er den sozial Schwachen zumutet.“ Darüber ärgert er sich maßlos, der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Hattingen, wie König sich formstreng nennt. Von lauter rot-grünen Yuppies sieht er sich umgeben. König, der temperamentvoll zu den Kollegen sprechen kann, hat auch einen Rat für den Kanzler parat: mehr aus den Niederlagen in NRW lernen. „Das Ruhrgebiet ist schwarz geworden, weil auch Gewerkschafter euch nicht mehr wollen.“

Seitdem die Regierung nur noch Sparen, Sparen, Sparen predigt und dafür viel Beifall von den Arbeitgebern erntet, ist es auch ihm zu eng geworden in der Neuen Mitte. Horst Schmitthenner, im Vorstand der IG Metall zuständig für Sozialpolitik, will es mal ganz klar sagen: „Wenn die Koalition so weitermacht, werden ihre Wahlergebnisse bald unter unseren Tarifabschlüssen liegen.“ Da lacht das Publikum und jubelt.

Ein bisschen Spaß muss schon sein, ansonsten ist die Stimmung auf dem Gewerkschaftstag ja ziemlich im Keller. Vor allem die hauptamtlichen Funktionäre gehen mit der Regierung hart ins Gericht. „Ich bin absolut enttäuscht“, sagt Reinhild Kölzer, „Schröders neoliberaler Kurs geht am Kern der SPD als Volkspartei vorbei. Er hat die Partei nicht nur vernachlässigt, sondern auch stehen gelassen.“ Wenn Reinhild Kölzer, 1. Bevollmächtigte der Gewerkschaft, durch die Betriebe in Leverkusen geht, hört sie immer nur eins: Wie kann das sein? Die SPD ist doch unsere Partei! In manchen Momenten ist Kölzer ganz froh, Mitglied der CDU zu sein.

Aber die Metaller schimpfen nicht nur, sie mühen sich auch redlich, Verständnis für die rot-grüne Koalition aufzubringen. „Wir sind 16 Jahre in den Arsch getreten worden, da kann nach einem Jahr nicht alles wieder gutgemacht werden.“ Die Regierung habe doch einiges getan: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Absenkung der Zuzahlungen zu Arzneimitteln, höheres Kindergeld, Steuererleichterungen für Arbeitnehmer. Der 45jährige Betriebsrat kann alle Wohltaten der ersten Stunde so schön aufsagen wie der künftige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Es nützt nur wenig. „Die Kollegen denken nicht mehr daran, sie schimpfen lieber.“ Wenn er sie fragt, was konkret ihnen nicht passt, hört er: Die ganze Richtung ist schief.

Hans Georg Leu ist ein besonnener Typ. Als die SPD mit Hilfe der Gewerkschaften an die Macht kam, hat er keine Luftschlösser gebaut. Aber bei allem Verständnis, das er für sie aufbringt, kann er eines nicht erkennen: Geschlossenheit. „Die Bundesregierung ist viel zu viel mit sich selbst beschäftigt. Da will sich jeder auf Kosten des anderen profilieren.“ Zuerst der Kampf Lafontaine gegen Schröder, nun der Zank ums Sparpaket und die Rente mit 60. Leu hat nichts gegen Streit und Diskussion. Aber die Regierung möge sich doch bitte mal ein Beispiel an einem gut funktionierenden Betriebsrat nehmen. „Wir streiten auch auf unseren Sitzungen um die richtige Linie. Aber am Ende sprechen wir mit einer Stimme.“

Auf welchem Kurs segelt die SPD, fragt sich Leu. Wo bleibt die soziale Gerechtigkeit? Darum gehe es in den Betrieben doch jeden Tag. Wie lange muss der Mensch arbeiten? Welche Absicherung hat er im Alter? Die Fragen brennen. In den letzten Jahren hat sich der Leistungsdruck erhöht. 1992 arbeiteten noch 1.100 Kollegen in Leus Betrieb. Heute müssen 600 die Arbeit schaffen. „Im Schiffsbau wird man kaputtgearbeitet“, sagt Leu. Wer mit 50 bei eisiger Kälte in Schiffsbäuche kriechen müsse, sehne sich nach der Rente mit 60. Kaum jemand gehe in Altersteilzeit, weil sie rund 500 Mark weniger Lohn bringe. Die Rente mit 60, notfalls aus Steuern finanziert, notfalls mit Abschlägen, dafür wird der Gewerkschafter kämpfen. „Notfalls mit Demonstrationen.“

So weit will Klaus Zwickel, Chef der IG Metall, nicht gehen. Sein Verhältnis zur Regierung sei „sachlich, gespannt, interessant und unterstützenswert“, sagt er. Die Rente mit 60 betrachtet er als Kernstück des Bündnisses für Arbeit. Finanziert werden solle der Ausstieg durch Tariffonds. Das Argument, dass die Kosten zu hoch seien, lässt er nicht gelten. In seiner Grundsatzrede betonte er, dass „hunderttausend Arbeitslose an direkten Zahlungen und Abgabenausfällen cirka 4,5 Milliarden Mark“ kosten. „Das sind auch gesetzliche Lohnkosten.“ Das sieht Alois Süß aus Stuttgart ganz anders. Die Rente mit 60 sei gut gemeint, aber ungerecht den Jungen gegenüber. „95 Prozent der Kollegen zahlen in den nächsten Jahren für etwas, von dem sie später nichts bekommen.“ Und wenn die Jungen schon zur Kasse gebeten würden, könnten doch gleich die Rentenbeiträge erhöht werden.

Bis Samstag werden noch viele Redner ihre Meinung zur Regierung und zur Rente vortragen. Ob die IG Metall danach ihr Verhältnis zur SPD geklärt hat, darf bezweifelt werden. Fest steht aber, dass die IG Metall nicht mehr mit dem Ausstieg aus dem Bündnis für Arbeit droht, dafür sind ihr Macht und Einfluss auf die regierende SPD zu wichtig.

Annette Rogalla, Hamburg