Hiroshima will seine unglückliche Berühmtheit gegen angenehmere Attraktionen eintauschen  ■   Von Egon Theiner

Sie war 13 und in ihrer Schule, als ein greller Lichtstrahl über die Stadt kam, damals, am 6. August 1945. Und sie war 23, als sich auch bei ihr die Spätfolgen radioaktiver Strahlung bemerkbar machten und ihr Leben ernsthaft gefährdet war. Weil sie überlebte, und weil sie der Welt vom Schaden berichten will, den eine Atombombe anrichten kann, erzählt Setsuko Iwamoto seit 14 Jahren immer wieder von jenem Hochsommertag vor 52 Jahren.

Iwamoto ist eine Hibakusa, eine von der Atombombe Geschädigte. Sie legt Zeugnis ab auch für all jene, die es nicht mehr tun können. Denn Hiroshima, am Ende des Zweiten Weltkrieges eine Stadt mit 240.000 Personen, verlor durch eine zweifelhafte kriegerische Aktion bis Dezember 1945 über 50 Prozent ihrer Einwohner.

Grau war ihr Heimatort, damals, am Tag des Überfalls, zwischen 8 und 9 Uhr früh, erinnert sich Iwamoto, wiegt den Kopf, sinniert, nickt. Ja, grau.

Einmal, wenn es aufgrund des Touristenzustroms sein muss, auch zweimal täglich erzählt Iwamoto jenen, die es hören wollen von ihrem Leben vor und mit der Atombombe. An Interessierten fehlt es ihr und ihren Kollegen und Kolleginnen, rund hundert, nicht. Hiroshima ist eine der bestbesuchten japanischen Städte.

Rund zehn Millionen Touristen kommen alljährlich, um zu sehen, was aus jener Stadt geworden ist, auf die die erste und vorletzte Atombombe geworfen wurde. Hauptsächlich Japaner sind es, auf der Reise in die eigene Vergangenheit. Sie stehen in Reih und Glied vor den Eingängen des Friedensmuseums, Autobusse laden Schulkassen im Friedenspark ab, da beten Ältere und Jüngere vor dem Zenotaph wie vor einem Buddhatempel: die Hände gefalten und Rauchstäbchen haltend, sich in alle vier Himmelsrichtungen verbeugend.

Die Atombombe ist für Hiroshima selbst ein Relikt jüngerer Vergangenheit. Und warum sich um diese scheren, wenn es in der Gegenwart und Zukunft so viel zu tun gibt? Man habe davon gehört, in der ersten Schulklasse, sagt die junge Bedienung im Restaurant. Und, fragt sie nach, was ist damit? Sie ist nicht Setsuko Iwamoto, sie hat nicht die Zerstörung und den Wiederaufbau ihrer Stadt erlebt.

Damals in Schutt und Asche gelegt und in der Farbe grau gehalten, zählt die Industriestadt heute über eine Million Einwohner und präsentiert sich in allen Facetten und Schattierungen einer Metropole. Die vier größten Einkaufszentren Fukuya, Tenmaya, Mitsukoshi und Sogo gehören bei Tag, die Stadtviertel Jagenbori und Nagarekawa bei Nacht zu den bestbesuchten Plätzen der Stadt. Hiroshima ist eine moderne Stadt, vergleichbar mit Osaka oder Tokio. Nur kleiner eben, überschaubarer, lebenswerter: weil beim Wiederaufbau Wert auf Grünzonen als Erholungsflächen gelegt worden war. So ist Hiroshima nicht nur jene Industriestadt, für die sie gerne gehalten wird: Schiffswerften, eisenverarbeitende Fabriken und Autohäuser bieten die meisten Arbeitsplätze.

Der Sport genießt hohen Stellenwert, immerhin gründete die Stadtverwaltung Anfang der 50er-Jahre ein Baseballteam als sichtbares Zeichen der Einigkeit und des Zusammenhalts. Die Mannschaft gewann dreimal die japanische Meisterschaft, und die Loyalität der Spieler zur Stadt gilt als vorbildhaft in japanischen Sportkreisen.

Eigentlich unvorstellbar. Da liegt eine Stadt in Trümmern, aber nach zwei Tagen verkehren auf der einzigen nicht zerstörten Linie bereits wieder die Straßenbahnen. Und sieben Tage später wird der Unterricht wieder aufgenommen. Dann gründet man eine Baseballmannschaft. Ihr Heimstadion liegt gegenüber dem Atombombendom.

Der „Genbaku Domu“, vor dem amerikanischen Überfall die Ausstellungshalle für Handelsprodukte, ist das Wahrzeichen Hiroshimas, das einzige Monument, das nicht abgerissen und neu aufgebaut wurde. Eine Ruine, die die Menschheit an den Schrecken der Atombombe erinnern soll. Der Atombombendom ist auf der Titelseite der Fremdenverkehrs-Broschüre abgebildet. Denn auch wenn die Stadtverwaltung alle Anstrengungen dahingehend unternimmt, um dem Ruf als selbst ernannte internationale Stadt des Friedens gerecht zu werden: bekannt ist Hiroshima einzig und allein aufgrund einer unglückseligen Vergangenheit. Im Friedensmuseum sind alle Protestnoten des Bürgermeisters an die Atommächte vermerkt, und auch die lokale Presse hat sich die Verbreitung des Weltfriedens und der Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben. Ob auf den Seiten der Tageszeitung oder im Museum: angegriffen werden all jene Länder, die offiziell Atombomben besitzen oder die „nukleare Optionen“ offen halten, wie es in der Sprache der Politik heißt.

Japan selbst war gerade aufgrund eines Unfalls in der Atomfabrik in Tokaimura in allen Schlagzeilen. Das Land gewinnt Energie aus 49 Kernreaktoren und baut derzeit an weiteren vier, Atombomben besitzt der Inselstaat jedoch keine. Dem hoch entwickelten Land würde jedoch zugetraut, innerhalb von drei Monaten eine einsatzfähige Bombe zu basteln. Hiroshima und Nagasaki, die zweite Opferstadt, treten gemeinsam mit Ausstellungen über A-Bombe und deren Schäden auf.

„Wenn ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, glaube ich, auf Leichen zu treten. Wenn ich auf den Fluss blicke, glaube ich, schwimmende tote Körper darin zu sehen. So, als hätte sich nichts geändert.“ Die Stimme von Setsuko Iwamoto zittert, ihre Augen scheinen nass zu sein. Auch wenn sie ihre Leidensgeschichte, gleichzeitig die Pein ihrer Stadt, auswendig aufsagen kann.

Iwamoto sträubt sich wie andere Betroffene dagegen, das schöne Bild des „Genbaku Domu“ als Propagandaschild der Stadt aufzugeben. Stadtverwaltung und Präfektur hingegen würden ihrem Tourismus gerne ein anderes Image verleihen, eines, das nicht an hunderttausende von Toten erinnert, eines, das weniger bedrückend wirkt auf Neuankömmlinge. Den Shukkeien Garden könne man besuchen, sagt Tomoko Takano, 30 Jahre jung, in der Fremdenverkehrszentrale, oder das Hiroshima Castle, 1589 erbaut, 1958 wiedererrichtet, oder das zeitgenössische Museum im Hijiyama-Park. Und wenn noch etwas Zeit übrig geblieben sein sollte für einen kurzen Ausflug: dann auf die Insel Miyajima, 40 Minuten mit Lokalbahn und Fähre von Hiroshima entfernt. Dort spielen nicht nur zahme Rehe mit Kindern, dort gibt es nicht nur Tempel, sondern auch Affen, Antiquitäten und ein Aquarium. Zumindest drei Stunden müsse man schon einplanen, wolle man einen unvergessenen Eindruck von der Insel erhalten, sagt Takano. Und allein wegen einer Sehenswürdigkeit zahle es sich aus, Hiroshima kurzzeitig zu verlassen: Der schintoistische Itsukushima Schrein mit dem bei Flut im Wasser stehende Otorii-Tor gilt als einer der drei schönsten Anblicke Japans.

Der schönste Anblick Japans zählt wenig, wenn sich auf dem Festland in nächster Nähe eine Stadt der besonderen Art befindet. Eine Stadt, die für den Kriegsgegner die geeignete Größe hatte, um den Effekt der Atombombe aufzuzeigen, und hohe Truppen-Konzentration aufwies. Eine Stadt, die das Schlagwort prägte: „World Peace begins in Hiroshima“, der Friede der Welt beginnt bei uns. Und weshalb im Friedensmuseum die audiovisuellen Beiträge in 15 Sprachen abrufbar sind – damit man später nicht sagen könne, nichts verstanden zu haben.

Hiroshima legt grundsätzlich großen Wert auf internationale Beziehungen, gründete deshalb eine Universität, in der Studenten aus anderen Ländern hoch willkommen sind, und die „International Relation Organization“. Honolulu war erste Partnerstadt, Montreal wird als nächste in eine lange Liste aufgenommen, in der seit 1983 auch Hannover zu finden ist.

In der Nähe des Doms werden T-Shirts zwischen umgerechnet 30 und 40 Mark verkauft. „Nie wieder Hiroshima“ ist auf ihnen zu lesen, und zu sehen ist der Atombombendom, seit 1996 Weltkulturerbe der Unesco. Irgendwann wird Hibakusa Iwamoto, heute 67 Jahre alt, nicht mehr erzählen können von jenem 6. August 1945. Die Augenzeugen von damals und deren Nachkommen werden älter und seltener. Irgendwann wird der Mythos Hiroshima verblassen, irgendwann werden anderen Attraktionen in der Atombombenstadt wichtiger.„Wir müssen das Mekka des Friedens bleiben“, fordert Setsuko Iwamoto nachdrücklich. „Die Welt hat ihre Lehren zu ziehen aus den Leiden von Hiroshima.“ Auskunft: Japanische Fremdenverkehrszentrale , Kaiserstraße 11, 60311 Frankfurt/Main; Tel. (0 69) 2 03 53, Fax: (0 69) 28 42 81 Japan Travel Bureau (JTB), Große Friedbergstraße 23, 60313 Frankfurt/Main; Tel. (0 69) 29 98 78, Fax: (0 69) 28 26 04 Anreise: Von Europa mit interkontinentalen und innerjapanischen Flügen über Tokio (LH um ca. 3000 Mark, weiter mit dem Japan Air Pass um 2200 Mark) oder besser noch mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen (Preis: rund 250 Mark) Hoteltipp: Das Green Hotel (ab 150 Mark im Doppelzimmer) liegt fünf Gehminuten vom Friedensmuseum entfernt. Tel. (00 81 82) 2 48 39 39, Fax: (00 81 82) 2 41 29 14