■ Die deutsche Wirtschaftspolitik zieht die falschen Lehren aus dem Wirtschaftsboom in den USA, warnen 81 Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus den Staaten

Berlin (taz) – Die USA haben es hingekriegt: wenig Arbeitslose und eine Wirtschaft, die dermaßen boomt, dass Wirtschaftspolitiker sich freuen, wenn das Wachstum sich in einem Quartal mal abschwächt. Daraus müssen wir Lehren ziehen, meint der Mainstream der Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland und predigt Lohndifferenzierung und Sozialkürzungen. Halt, warnen 81 amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in einer jetzt veröffentlichten „Erklärung an deutsche Kollegen und Kolleginnen“. Mit dabei: Ray Marshall, Arbeitsminister in der Carter-Regierung, und James K. Galbraith, Autor von „Created Unequal“.

Das Bemühen der Bundesregierung, die USA zu kopieren, beruhe auf „Missverständnissen über den Kern der jüngsten amerikanischen Erfolge“, so die US-Wissenschaftler. Offenbar seien die Deutschen in dem irrigen Glauben, freie Märkte, Deregulierung und Privatisierung seien die Quelle des US-Wachstums. In Wirklichkeit hätten diese jedoch in den 80er Jahren ernsthafte Fehlschläge verursacht.

Es sei ein Mythos, dass die niedrige Arbeitslosigkeit dem stark ausdifferenzierten Lohnsystem zu verdanken sei. Und eine Umkehrung der Erkenntnisse, die man aus den letzten 30 Jahren amerikanischer Wirtschaftsentwicklung ziehen müsse. Die Arbeitslosigkeit sinkt nicht etwa seit den 70er und 80er Jahren, als die Regierung die heftigsten Deregulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen durchsetzte, sondern erst seit Mitte der 90er Jahre. Dabei sind die Löhne für Beschäftigte aus den unteren Einkommensklassen seitdem überdurchschnittlich gestiegen, die Mindestlöhne wurden angehoben, und die negative Einkommenssteuer sorgt dafür, dass Familien mit niedrigem Einkommen mehr Geld zur Verfügung haben. Und: Neue Arbeitsplätze gibt es keineswegs vor allem in den deregulierten Bereichen, also im Bankenwesen oder beim Lkw- und Luftverkehr, sondern im Gesundheitswesen, wo der Staat noch eine große Rolle spielt. Die Ökonomen schließen daraus, dass auch die deutsche Politik, Lohnstandards zu untergraben, keine Arbeitsplätze schaffen wird. Sie „wird auch nicht zu mehr Sparen und Investieren führen“, schreiben sie. Das habe die Reagan-Ära gezeigt.

Tatsächlich sei das amerikanische Rekordwachstum vor allem den niedrigen Zinsen und der großzügigen Kreditvergabe der Federal Reserve Bank zu verdanken. In der Folge seien die Investitionen gestiegen. Allerdings hätten sich dadurch Konsumenten auch schneller und höher verschuldet. Zugleich sei das Handelsbilanzdefizit „explodiert“. Niemand könne sagen, wie und wann die Situation umkippe.„Aber die Vermutung liegt nahe, dass ein fortgesetztes Wachstum eine stärkere und nicht eine schwächere Rolle der Regierung erfordert.“ Das werde in den USA mehr und mehr erkannt. „Deutschland sollte diese positiven Züge der amerikanischen Politik und nicht unsere destruktive Phase studieren.“ Beate Willms