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Null zu null gewonnen

Mit der Uraufführung von „Deutschland bleiche Mutter“ läutet Roberto Ciulli im Münchner Residenztheater die neue Ära Schweeger ein  ■   Von Sabine Leucht

Ach Deutschland ...“, seufzt das Bayerische Staatsschauspiel zum Ausklang des Jahrhunderts, und dieser Seufzer schließt die ganze Spielzeit ein. Wunde Deutschland! Krieg ist's wieder – und du bist dabei: In Tankred Dorsts „Großer Szene am Fluß“ haben deutsche Söldner in Bosnien ihren Kumpel hingerichtet. Vielleicht führen sie aber auch nur den russischen Reporter an der Nase rum. Klaus Emmerichs Münchner Uraufführung lässt alle Fragen offen und schiebt zwischen seine Schauspieler und die makabre Gefühlswelt des Textes knatternde Wortsalven, schrilles Gegreine und Dauergelächter. Doch das war Ende September. Die große Eröffnungsinszenierung zum Thema Krieg und Wahrheit fand vergangenen Samstag statt. Da läutete Roberto Ciulli mit der Uraufführung von Helma Sanders-Brahms Filmerzählung „Deutschland bleiche Mutter“ die Ära (Elisabeth) Schweeger ein.

Der neuen Chefdramaturgin des Residenztheaters ist nicht nur das Spielzeitmotto zu verdanken, sondern auch der Wille, künftig „Haltung einzunehmen“ zu dem „Undefinierbaren“, „Brüchigen“, was für sie Deutschland ist. Vielleicht weil Haltung nie das herausragendste Merkmal seiner nunmehr sechs Intendantenjahre war, hat Eberhard Witt die streitbare Marstall-Chefin an seine Seite geholt. Die experimentelle Sparte des Staatsschauspiels, die die gebürtige Wienerin seit fünf Jahren (und auch weiterhin) leitet, ist eine „moderne Theaterdisco“ (Abendzeitung) wo sich im Crossover Musik, Tanz, bildende Kunst, Architektur und elektronische Medien die Hände reichen und so unterschiedliche Persönlichkeiten wie André Wilms, Alexeij Sagerer, Peter Greenaway, Herbert Achternbusch und Albert Ostermaier Raum finden für etwas, was allenfalls am Rande mit Theater zu tun hat.

Roberto Ciulli ist kein Marstall-Import. Der 65-jährige Leiter des Mülheimer Theaters an der Ruhr ist eine der erfreulichsten Resi-„Altlasten“. Er hat dort bereits im letzten Jahr „Dona Rosita“ nach Garcia Lorca inszeniert. Mit seiner Orientierung an Themen und Bildern statt Dramen liegt er ganz auf der Linie Schweegers, die kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bekannte, nicht allzu viele Stücke zu lesen: „Ich schaue mir die Welt an, und dann weiß ich, was ich zu tun habe.“ Vom schicken Hauptgebäude an der Münchner Renommiermeile, der Maximilianstraße, aus besehen, schaut die Welt natürlich anders aus als von den ehedem königlichen Stallungen am Marstallplatz. Der scharfe Blick wird weicher, aus Umsturz wird Profilkosmetik: Neben einem längst fälligen Thema verschreibt Schweeger der größten Sprechbühne Bayerns die sanfte Öffnung – zunächst vor allem in Richtung Publikum.

Die neue Theaterzeitung ba.sta. und sonntägliche Matineen sollen die finstere Reihe von Deutschlandbildern zugänglich machen, die noch im Oktober mit Agota Kristofs kindlichen Schlächtern („Das große Heft“) und Wedekinds Züchtungsphantasien („Karl Hetmann, der Zwergriese“) fortgesetzt wird. Mit zwei weiteren Uraufführungen und Altbewährtem in experimentierfreudigen Händen (André Wilms inszeniert Brechts „Kleinbürgerhochzeit“, Stéphane Braunschweig den „Woyzeck“ und Andreas Kriegenburg „The Black Rider“) wollen Witt und Schweeger „einen fragmentarischen Bogen als Denkanstoß spannen zwischen dem verklärten klassischen Verständnis antiker Ideale, radikaler Engstirnigkeit und neuer Sehweisen“. Ach Deutschland, deine Sprache! Ein fragmentarischer Bogen – eine neue Begriffsklammer um die alte Beliebigkeit? Doch auch künstlerische Täter muss man an ihren Taten messen.

Erster Tatort: Deutschland. Ein Italiener mit deutscher Staatsbürgerschaft begibt sich auf sie Suche nach deutscher Identität – auf den Spuren jener Geschichte, die Helma Sanders-Brahms über ihre Eltern schrieb und 1979 erfolgreich verfilmte. Wie die Autor(enfilmer)in erzählt Ciulli die Geschichte einer scheiternden Liebe in den Wirren des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht des Kindes. Hans (Thorsten Krohn) und Helene (Johanna Gastdorf) sind deutsche Jedermänner – nicht in der Partei, aber entschlossen zu leben. Doch dazwischen stehen die Front und viele Jahre Fliegeralarm.

Töchterchen Anna setzt die beiden in Szene, bringt ihre ungelenken Arme in die richtige Schmuseposition und muss ganz schön japsen und hopsen, bis Muttern sie endlich zur Welt kommen lässt. Ciullis Idee, das Kind in die Geschichte hineinzunehmen, verdanken sich nicht nur einige der schönsten Szenen. Die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch ist eindeutig das Herz der Aufführung – und der Kleister, der die lockeren Szenen und steifen Menschen zusammenhält. So wie die Sprache des Stückes noch in Marion Tiedtkes Bearbeitung nüchtern und quasidokumentarisch vom „jüdischen Erbfeind“ und „zackigen Soldaten“ spricht, so hölzern stehen die Liebenden voreinander. Kein Hauch Erotik will sich einstellen zwischen dem erstaunten „Es geht ja“ und dem finalen „Viel zu schnell“, nachdem Anna ihre künftigen Eltern zum Bett gepfiffen hat. Die Ehe: ein Verzweiflungsschrei nach Normalität. Und kurz vor dem Abgrund wird schnell noch ein Kind gemacht.

Ciulli geht das schwierige Thema sehr behutsam an, schaut gleichsam von draußen rein: Drinnen drehen sich Paare wie Spielfiguren zur Jahrmarktmusik, Gäste sitzen mit Tiermasken unter dem Buffet. Draußen pendeln Leichen sanft im weihnachtlichen Schneegestöber – und irgendwann wird Lenes Stimme rauh und hart wie die Zeit. Am Ende trägt die „tapfere kleine Soldatenfrau“ auch äußerlich das Gesicht des Krieges: eine starre Fratze.

Eine Zeit lang dachte man fast, die Regie würde sich in ihren hübschen Bildern verlaufen. Dachte, das Trio Deutschland, Krieg und Schuld hätte unausweichlich Ausweichmanöver zur Folge. Doch anders als Albert Ostermaier, bei dem der Gedanke ans Vaterland in der ersten Ausgabe von ba.sta. nur schillernde Blasen in Reimform erzeugt, kriegt Ciulli die Kurve zum Sinn. Ganz nebenbei. Er muss nicht erst laut rufen „Achtung Ironie!“, um Betroffenheitspathos zu vermeiden. Stattdessen sperrt er die großen Aktionen – Kampf, Vergewaltigung, Bombenhagel – aus den Bildern aus und zelebriert geradezu die scheinbar unbedeutenden Details: die Rassel, mit der Nazi Ulrich (Heiko Raulin) selbstversunken den Endsieg herbeiklingeln will, das Leuchten in Helenes Augen, als sie Melken lernt.

Doch während Frau sich in Überlebenskunst übt, ist der Krieg zu Ende, und statt eines Ehemannes kommt ein Soldat zurück. Man muss nicht erklären, warum Helene sterben will. Ciulli tut es auch nicht. Er inszeniert die Sehnsucht, die allein das Überleben möglich machte. Den Traum, der mit dem Krieg gestorben ist. „Mein Schatz“, sagt Anna am Ende zu ihrer starren Mutter, „das träumte mir nur.“ Dann winkt sie energisch das Licht aus, und im Dunkeln dreht sich einsam die Welt als blaue Kugel.

Draußen, jenseits des Theaters, sind die nächtlichen U-Bahnen voller friedlicher Fußballfans unterschiedlicher Nationalitäten. Länderspiel war: Deutschland gegen die Türkei, Null zu null. Ach Deutschland ... Das ist doch schon was.

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