■ Italien: Wie Politik und Mafia die Justiz bekämpfen
: Das Ende der Kronzeugenregelung?

In Sachen Kronzeugenregelung war Italien bisher ein Vorzeigeland – bis vor kurzem im Prozess um die Ermordung des Journalisten Mino Pecorelli neben dem Ex-Ministerpräsidenten Andreotti auch die verdächtigten Mafiosi freigesprochen wurden. Die Kronzeugen hatten das Gericht offenbar nicht überzeugen können. Seitdem fragen sich viele: Ist die Kronzeugenregelung damit am Ende?

Fest steht: Der Freispruch zeigte sofort Wirkung. Kaum eine Zeitung brachte das Verfahren gegen Berlusconi als Aufmacher – selbst unter Staatsanwälten und Richtern herrscht eher betretenes Schweigen. Staatsanwälte, die aufgrund von Kronzeugen ermitteln, stehen in Italien mittlerweile im Ruf, geltungssüchtige Inquisitoren zu sein. Umgekehrt erfreuen sich von Kronzeugen Angeschuldigte wie Berlusconi einer Art Immunität. Ein bizarre Verkehrung, die zeigt, dass das System der Kronzeugen, das zahlreiche Verfahren gegen Mafiosi und undurchsichtige Politiker ermöglichte, an seine Grenze gestoßen ist. Nun gilt es, die Diskussion differenziert zu führen.

In Italien gibt es viele Politiker, die dankbar sind, daß die Kronzeugen im Andreotti-Prozess als unglaubwürdig eingestuft wurden – denn so wird die Unantastbarkeit der Führungselite wiederhergestellt, die seit Mitte der 90er grundlegend in Frage gestellt wurde. Dennoch sollte man den Kampf nicht vorzeitig aufgeben und das Andreotti-Urteil nicht leichtfertig verallgemeinern. Bald wird der zweite Prozess gegen den Ex-Premier zu Ende gehen, und auch dort spielen die in Italien „Pentiti“, Reuige, genannten Kronzeugen eine große Rolle.

Kronzeugen sind stets eine prekäre Angelegenheit. Gerade viele deutsche Grüne, Linke und Liberale haben die Schwachstellen des Systems bis in alle Winkel ausgeleuchtet. So liegt die Versuchung für Kronzeugen nahe, den Wert ihrer Aussagen durch Übertreibung oder auch falsche Anschuldigungen aufzublähen, um so noch mehr Benefizien – Strafnachlass, neue Identität, Mittel für die Existenzneugründung – zu erhalten. Hinzu kommt, dass in Italien sichtbar geworden ist, dass auch zu viele Kronzeugen eine Gefahr darstellen, etwa dann, wenn sie sich gegenseitig widersprechen. Schon nach Einführung der Kronzeugenregelung Mitte der 80er hatte man den Eindruck, dass Mafia und Camorra gezielt „Aussteiger“ als Kronzeugen platzierten, die eine enorme Menge verifizierbarer Aussagen machen – um dann oft nur eine falsche anzuhängen, auf die es der Mafia ankam. Solche platzierten „Pentiti“ konnten aber auch die Aufgabe haben, durch immer offenkundigere Widersprüche das gesamte System des „Pentitismus“ zu diskreditieren – so geschehen bei der Anschuldigung des Showmasters Enzo Tortora wegen Drogenhandels, die durch Widerruf seitens des Kronzeugen in zweiter Instanz „beerdigt“ wurde.

Für Ermittler wie für die Gerichte ist dies eine kaum mehr zu bewältigende Situation. Offenbar hat sich die organisierte Kriminalität als stärker erwiesen als der Staat: Es ist ihr gelungen, die Aussteigerregelung gegen die Justiz selbst zu wenden. Dabei hatte die Regelung bis Anfang der 90er geholfen, den Mafia-Sumpf tatsächlich auszutrocknen. Über 80 Prozent der Anklagen führten zu Verurteilungen. Wie sehr die Mafiosi die Regelung fürchteten, zeigen ja auch die Morde an Staatsanwälten, denen es besonders gut gelungen war, Mafiosi zu „Pentiti“ zu machen.

Die Kronzeugenregelung hat freilich nur so lange funktioniert, wie sich die Ermittlungen auf die Mafiosi selbst beschränkten, nicht aber auch ihre Zuarbeiter, Gönner und Kumpane in Politik und Hochfinanz betrafen. Seit Ermittler mit Hilfe der Kronzeugen auch noch auf nicht mafiose Verbrechen von Politikern stießen, führt das Machtkartell einen entschlossenen Kampf gegen alle Arten von Kronzeugen. Nun droht das gesamte System zu kippen.

Daraus sollte man anderswo freilich nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass Kronzeugen nichts bringen. Die italienische Erfahrung lehrt anderes: In manchen Bereichen lassen sich brutal abgeschottete Organisationen tatsächlich nur mit Kronzeugen aufbrechen. Allerdings taugen deren Aussagen nur zur Eröffnung von Verfahren. Die Wahrheit muss vor Gericht bewiesen werden. Werner Raith