Die Wahrheit als Hyperkubus

Hier spricht der Kolonisierte selbst: Alex Garland liefert in seinem zweiten Roman „Manila“ präzise Short Cuts aus der modernen philippinischen Gesellschaft  ■   Von Axel Henrici

Man kennt das ja: Kaum hat man mal ein Jahr in Berlins Prenzlauer Berg gewohnt, fängt man an, über die vielen Neuzu-gänge im Viertel zu schimpfen und in den Chor derer einzustimmen, die sagen, dass es einfach nicht mehr so wie früher ist. So ungefähr muss man sich auch die Grundsituation für den hippen jungen Rucksacktouristen von heute vorstellen, der zwar schon weiß, aber immer wieder betrübt von neuem feststellen muss: off the beaten track is the most beaten track of all. Woher kommen auf einmal all die vielen fremden Leute? – fragt der kleine Kiez-Faschist in uns.

Dass der Kiez-Faschismus auch unter thailändischen Palmen gut gedeihen kann, hat der junge Engländer Alex Garland nachgewiesen. Im touristischen Spiel der Distinktionen fand er das Thema zu einem Thriller allererster Klasse. Garlands Erstling „Der Strand“ war eine originäre Kreuzung aus „Herr der Fliegen“ und „Apocalypse Now“, und ein Geniestreich. Nun hätte man denken können, dass Garland mit seinem zweiten Roman auf Nummer sicher geht und das erfolgversprechende Thema noch ein bisschen ausschöpft.

Und ein bisschen stimmt das auch: Wieder spielt die Handlung in Südostasien, diesmal jedoch nicht in Thailand, sondern auf den Philippinen. Und wieder scheinen die ersten Seiten einen Thriller zu versprechen. Aber wo sich Garland in „Der Strand“ konsequent den Blick des Travellers zu eigen macht, der kein Tourist sein mag, die zu annektierenden Gebiete aber dem gleichen kolonialen Blick unterwirft wie der Pauschalreisende, spricht hier der Kolonisierte selbst. Zwar suggeriert der Romananfang eine Doublette zum Erstling – nämlich dass hier mal wieder ein junger Engländer ein exotisches Erlebnissetting braucht – und generiert dieselbe wohlig-schaurige Thrillervorahnung. Aber das ist bloß eine erzählerische Finte.

In Wahrheit gibt es in „Manila“ kein erzählerisches Zentrum, nur Short Cuts aus der modernen philippinischen Gesellschaft. Statt „Ich, Richard, der Davongekommene (Südostasien-Reisende)“, gibt es eine Fülle von Perspektiven, die sich in der Summe zu einem Panoptikum der heutigen Philippinen, zu einem „Wir, die davongekommenen Südostasiaten“ fügen soll. Da ist der Mafioso mit seinen gehorsamen Handlangern, der Wert auf seine spanische Abstammung legt, und die aus der Provinz kommende, philippinische Kleinfamilie, die den Sprung geschafft hat und jetzt in einem besseren Viertel lebt.

Da sind aber auch zwei elternlose Straßenjungs und ein sozial privilegierter Soziologe, der diese Jungs dafür bezahlt, dass sie ihm ihre Träume erzählen. Vulgo: Die Wahrheit ist vielschichtig, und sie lässt sich nicht greifen. Deutlich – vielleicht zu deutlich – macht Garland das in seiner Metapher vom „Tesserakt“, einem vierdimensionalen „hyperkubischen“ Gebilde, das man nur dreidimensional wahrnehmen kann. Aber natürlich laufen am Schluss alle Erzählstränge zusammen, obwohl man fast schon vergessen hatte, dass man eigentlich wissen wollte, wie die gleichsam als Teaser fungierende Verfolgungsjagd vom Romananfang ausgeht.

Garland wäre nicht Garland, wenn er nicht wüsste, wie er einen bei der Stange hält. War „Der Strand“ ein existenzphilosophischer Thriller über die Abgründe im Herdentier Mensch, so liefert Alex Garland mit Manila nun eine kleine literarische Studie über soziale Gegensätze, Landflucht in der philippinischen Moderne und das Leben in der Großstadt Manila. Wer schreibt mal sowas über Berlin? Alex Garland: „Manila“. Übersetzt von Thomas Mohr. Goldmann Verlag 1999. 256 Seiten. 36,90 DM