Rumäniens Historie auf den Scheiterhaufen

■ Ein Geschichtsbuch für Abiturienten erhitzt in Rumänien die Gemüter. Kritiker sprechen von Geschichtsrelativierung. Sie fordern ein Verbot und die Verbrennung des Lehrwerkes

Der Koordinator des Geschichtsbuches musste sich vorwerfen lassen, er sei mit einer Nicht-Rumänin verheiratet

Bukarest (taz) – „Das Buch verdient es, öffentlich verbrannt zu werden.“ Diesen Wunsch verkündete der Senator und prominente Regisseur patriotisch verklärter Filmepen, Sergiu Nicolaescu, letzte Woche im rumänischen Parlament. In der Hand hielt Nicolaescu das Buch, das seine Wut entfacht hatte: ein Geschichtslehrbuch für die 12. Klasse. Die Brandrede Nicolaescus hatte Folgen: Das Buch rief in Rumänien eine Welle hysterisch-nationalistischer Entrüstung hervor. Eine Parlamentskommission will jetzt entscheiden, ob es ein Verbot des Buches als Lehrmaterial empfiehlt.

Das inkriminierte Werk gehört zu den so genannten „alternativen Schulbüchern“, die in Rumänien seit einigen Jahren erscheinen und die amtlichen Lehrbücher ergänzen sollen. Herausgegeben von einem privaten Verlag und als Lehrmaterial vom Bildungsministerium zugelassen, versucht das Buch die rumänische Geschichte zu entmystifizieren und wissenschaftlich korrekt darzustellen.

Ein gefährliches Vorhaben: In Rumänien wird Geschichte nicht als Wissenschaft betrieben, sondern ist Mittel zur Inszenierung der Vergangenheit. Die Mythen werden als „historische Wahrheit“ gelehrt und dienen als Fundament des ethno-nationalistischen Staats- und Nationsverständnisses. So ist Rumänien nicht aus rationalen, sondern aus Gründen der bis in die graue Vorzeit zurückreichenden Tradition ein „einheitlicher, unteilbarer Nationalstaat“.

Auch den Landesteil Siebenbürgen, der seit 1918 zu Rumänien gehört, besitzt Rumänien nicht aufgrund eines Status quo, sondern wegen der „zweitausendjährigen historischen Kontinuität“ des Rumänentums in diesem Gebiet. Besonders erregt hat Kritiker des inkriminierten Buches nun, dass die Existenz von jahrtausendealten historischen Figuren als ungesichert bezeichnet wird oder dass neben einem Bild des Wojewoden Vlad Tepes nicht dessen Verdienste um die rumänische Nation aufgelistet werden, sondern er lediglich mit dem Dracula-Mythos in Verbindung gebracht wird.

Der Koordinator des Geschichtsbuches, Sorin Mitu, musste sich deshalb vom Moderator einer Talk-Show des privaten Fernsehsenders „Antena 1“ vorwerfen lassen, er sei mit einer Nicht-Rumänin verheiratet. Cristian Tudor Popescu, der Chefredakteur der größten Tageszeitung, Adevarul (Die Wahrheit), spricht von „Geschichtsrelativierung“: „Wenn die historischen, fundamentalen Mythen des rumänischen Volkes in schwachsinniger Weise angegriffen werden, dann ist das eine antinationale, antistaatliche Aktion in aller Form.“

Weniger drastisch äußert sich die rumänische Akademie der Wissenschaften: Das Buch enthalte „minimalisierende, bagatellisierende Kommentare“, und es seien die „Mythen der rumänischen Spiritualität verschwunden“.

Die Forderung, das Lehrbuch für den Unterricht zu verbieten und zum System eines einzigen, einheitlichen Lehrbuches für ein jeweiliges Schulfach zurückzukehren, sehen viele Intellektuelle als „Versuch, totalitäre Praktiken wiederzubeleben“, wie es in einer Protestresolution von Bukarester Historikern heißt.

Lucian Boia, Historiker und Autor einer vielbeachteten Studie mit dem Titel „Geschichte und Mythos im rumänischen Bewusstsein“, sieht die „Lehrbuch-Affäre“ mit Besorgnis: „Wenn das Bildungsministerium das Buch zurückzieht, ist das der erste offizielle Akt von Zensur seit dem Sturz Ceausescus.“

Keno Verseck