Posthumer Umzug

Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel rehabilitiert die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann mit einer detailreichen Werkstudie als Intellektuelle  ■   Von Diemut Roether

Ich möchte das Briefgeheimnis wahren, aber ich möchte auch etwas hinterlassen“, schrieb Ingeborg Bachmann in ihrem 1972 erschienenen Roman „Malina“. Die Rede ist von Briefen, die versteckt werden müssen, damit sie nicht gelesen werden, und von einem weiblichen Ich, das Gefahr läuft, sich aus Versehen selbst zu verbrennen: „Ich muss aufpassen, dass ich mit dem Gesicht nicht auf die Herdplatte falle, mich selber verstümmle, verbrenne, denn Malina müsste sonst die Polizei und die Rettung anrufen, er müsste die Fahrlässigkeit eingestehen, ihm sei da eine Frau halb verbrannt.“

Als Ingeborg Bachmann ein Jahr später tatsächlich in Rom mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und drei Wochen darauf starb, fehlte es nicht an Nachrufen, die die „Feuer- und Todesbilder“ in Bachmanns Büchern als Todesahnung interpretierten. Unbekümmert wurde Bachmanns Leben fortan mit ihren Werken gleichgesetzt, das literarische Ich mit der Autorin identifiziert.

Ebenso ungeniert trachteten die begehrlichen Blicke der Bachmann-Forscher sofort auf die Briefe der Autorin. Sie werden in jenem Teil des Bachmann-Nachlasses vermutet, der nach wie vor für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Trotz dieser Einschränkung gibt es „wohl kaum einen häufiger frequentierten Nachlass im Archiv der Gegenwartsliteratur“, schreibt die Germanistin Sigrid Weigel, deren kürzlich erschienene Bachmann-Monographie den Regalmetern Forschungsliteratur über die österreichische Autorin weitere 4,5 Zentimeter hinzufügt.

Dabei ist die Literaturwissenschaftlerin jedoch einen anderen Weg gegangen als die meisten Bachmannologen vor ihr. Dem Diskretionsgebot der Dichterin gehorchend, für die jeder Nachruf „zwangsläufig eine Indiskretion“ war, begab sie sich zu den Quellen – den Werken der Autorin. Weigel liefert keinen Klatsch, keine Gerüchte, keine neuen Anekdoten aus Bachmanns Leben. Es geht um Literatur pur: Text, Text und nochmals Text. Selbst mit biografischen Bezügen geht die Literaturwissenschaftlerin zurückhaltend um. Ihr Buch, das ausdrücklich keine Biografie sein will, nennt sie „Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses“.

Mit ihrem puristischen Ansatz will die Literaturwissenschaftlerin dazu beitragen, Bachmann als Philosophin und Intellektuelle zu rehabilitieren und das öffentliche Bachmann-Bild vom Ballast der Mythen zu befreien, die sich um die gefeierte, tragische Dichterin, die Freundin berühmter Männer wie Paul Celan und Max Frisch, ranken. Natürlich kann sich die Akademikerin dabei manche Spitze nicht verkneifen – etwa gegen Max Frisch, der bekanntlich unter Bachmanns intellektueller Überlegenheit gelitten haben soll. Mit milder Ironie kommentiert Sigrid Weigel auch die patriarchalen Entdeckerlegenden, die einige Bachmann-Freunde später über sich und „das junge, höchst unvorteilhaft angezogene Mädchen“ verbreiteten.

Die Literaturwissenschaftlerin richtet sich freilich nur an Bachmann-Kenner. Intensive Werklektüre setzt sie ebenso voraus wie Kenntnisse der Vita der österreichischen Schriftstellerin. Wer darin nicht ganz so firm ist, sollte vielleicht heimlich Hans Höllers Bachmann-Monografie zu Rate ziehen. Weigel interessieren die Besonderheiten der Bachmann-Rezeption: Die junge Autorin, die Anfang der Fünfzigerjahre wie ein Komet am Himmel der Nachkriegsliteratur erschien, wurde nicht nur in Literatenkreisen als „Poeta“ gefeiert. 1954 widmete der Spiegel der damals 28-jährigen Dichterin, die zwei Jahre zuvor scheinbar aus dem Nichts auf einer Tagung der Gruppe 47 aufgetaucht war, sogar eine Titelgeschichte. Sie war die raunende, gefühlvolle Undine, deren „schwebende und unbestimmte“ Klagegesänge von „traurig schönen Bildern und Stimmungen des Untergehens“ kündeten.

Als Prosaistin hingegen missfiel die scharfzüngige, intelligente Frau wenig später der überwiegend männlichen Literaturkritik. Klarsichtig beschrieb sie die herrschenden Mann-Frau-Verhältnisse und diagnostizierte Anpassung als vorherrschende (Über)Lebensstrategie. Ihre genauen und ironischen Analysen mochten nicht recht zum Bild von der „scheuen und hoch gebildeten Dichterin“ passen, das man sich bereits geformt hatte. Marcel Reich-Ranicki prägte damals in einer vernichtenden Kritik über Bachmanns Erzählungen das Bild von der „gefallenen Lyrikerin“. Will sagen: Er hätte es lieber gesehen, wenn die Bachmann bei Gedichten geblieben wäre.

Sigrid Weigel legt nun überzeugend dar, dass das Schreiben von Prosa für Bachmann kein Neuanfang war. Sie selbst bezeichnete es vielmehr als „Umzug“. In ihren Romanen und Erzählungen entwickelte die Schrifstellerin ihre Lyrik weiter und schrieb zugleich auch ihre eigene Poetologie fest. Wie den Gedichten merkt man auch den Erzählungen kaum an, wie viel theoretische Reflexion Bachmanns Schreiben zugrunde liegt. Weigel verfolgt, wie sich einzelne Motive aus den frühen Anfängen in den späteren Texten weiterentwickelt haben. Da wäre zum einen die Bedeutung von Städten wie Rom, Wien, Paris oder Berlin und der Landschaft, in der Ingeborg Bachmann aufgewachsen ist: Kärnten. Zum zweiten wäre da der (fast) lebenslange poetologische Dialog mit Paul Celan, dessen Gedichte Bachmann immer wieder zitiert. Mit detektivischer Genauigkeit forscht Weigel in den Texten der leidenschaftlichen Leserin Bachmann nach Verweisen auf andere Autoren und entdeckt Benjamin, Adorno, Bloch und Scholem – neben den altbekannten Bachmann-Anregern Heidegger und Wittgenstein.

Die große Stärke des Buchs, Weigels intensive Beschäftigung mit Bachmanns Werk, ist jedoch zugleich seine größte Schwäche. Denn nach gut fünfzehn Jahren Bachmann-Forschung fällt es der Wissenschaftlerin in ihrem Opus magnum naturgemäß schwer, sich zu beschränken. Und auch die strenge Akademikerin ist nicht frei von persönlichen Obsessionen: Weigel will nachweisen, wie wenig feinfühlig Bachmanns (meist männliche) Zeitgenossen mit den Überlebenden des Holocaust und dem, was Weigel als „Nachgeschichte“ bezeichnet, umgingen. Anhand der „eher unspektakulären Sphäre von Gesprächen und Begegnungen“ skizziert Weigel die von ihr so genannte „zeitgenössische Bewusstseinslage“, indem sie willkürlich einige Äußerungen aus Briefen herausnimmt und auf die akademische Goldwaage legt. Sodann spricht sie ihr vernichtendes Urteil über die unsensiblen Zeitgenossen Bachmanns. Hier betreibt die Wissenschaftlerin selbst jene „germanistische Kriminalistik“, die sie den von ihr geziehenen Bachmann-Forschern vorwirft.

Die geneigte Leserschaft muss viel Begeisterung für spröde Seminarlektüre mitbringen, um sich mit der Literaturprofessorin auf die Mühen der Interpretation einzulassen und ihr über gut 500 Seiten zu folgen, in denen natürlich weder zurechtweisenden Seitenhiebe auf andere Bachmann-Exegeten noch Wissenschaftslatein fehlen dürfen. Da ist von „Affiziertheit“ die Rede, von „subscriptio“, „ars memoriae“ und „imagines agentes“. Aber von diesem akademischen Imponiergehabe sollte sich niemand abschrecken lassen, Ingeborg Bachmann wieder zu lesen.

Sigrid Weigel: „Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999, 610 Seiten, 68 Mark

Hans Höller: „Ingeborg Bachmann“. rororo, Reinbek 1999, 190 Seiten, 12,90 Mark