Das Haus hört nie auf

Macht hoch die Tür, den Raum macht weit: Der Choreograf William Forsythe eröffnet in Frankfurt die neue Spielzeit. Zwanzig Lampenschirme agieren mit erotischer Anmutung, aber bloß ohne Text hätte man überwältigt sein können  ■   Von Gabriele Wittmann

Freitagabend, vor der Frankfurter Oper. Erwartungsvolle Augen blicken aus den Zuschauern, Insider berichten gar über Herzklopfen. Schließlich geht es um mehr als nur um eine Spielzeiteröffnung. Es geht um ein Experiment. Um das Wagnis, neue Räume zu erkunden. Denn William Forsythe spielt mit dem Ballett Frankfurt an diesem Abend nicht nur auf der hochoffiziellen Proszeniumsbühne der Oper. Nach einer Stunde muss das Publikum umziehen in das frisch renovierte Bockenheimer Depot, das ab dieser Spielzeit vom Ballett Frankfurt und dem neuen Schauspielensemble um Tom Kühnel und Robert Schuster bespielt wird.

Und das hat keine so gute Vorgeschichte. 1998 sieht Forsythe am Schauspiel Frankfurt die beiden jungen Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster mit ihrem witzig in Szene gesetzten „Faust“ Projekt und setzt an zu gemeinsamen Höhenflügen. Er will im TAT „spartenübergreifende theatralische Ereignisse“ schaffen, will Schauspieler und Tänzer gemeinsam auftreten lassen. Er holt das Team zu sich ans TAT, zum Ärger des bald scheidenden Schauspiel-Intendanten Peter Eschberg. Die Streitereien nehmen kein Ende, der Winter naht, das TAT wird geschlossen zwecks Renovierung. Forsythe schwankt, will das Ballett erst verkleinern, dann stellt er doch wieder neue Tänzer ein. Und dann kommt der erste Flop mit dem neuen Dreiergespann: Der „Faust II“ wird ein Fiasko. „Choreographierte Deklamation“ schimpfte der Tagesspiegel das Resultat.

Nun gehen die Herren wieder eigene Wege. Die jungen Regisseure experimentieren mit „vier Grundlagenforschungen der Kommunikation“ rund um das Thema „Arbeit“, Forsythe erkundet weiterhin den „Raum“ – und zwar vermehrt in der riesigen Halle des Bockenheimer Depots. Im Dezember wird dort seine Londoner Installation, ein riesiges Luftschloss, als „White Bouncy Castle“ dem Zuschauer freiwillige und unfreiwillige Bewegungen entlocken. Doch zunächst: „Endless House“, ein Stück über den Serienmörder Charles Manson, dem im August 1969 „satanische Stimmen“ aufgetragen hatten, reiche weiße Amerikaner wie die hochschwangere Sharon Tate zu töten.

Die Frankfurter Oper füllt sich. Noch sehen wir die leere, einladende Bühnenfläche als unendlich weiten Raum. Ganz hinten steht eine balinesische Bank. Davor, noch eine. Zwei klitzekleine Gestalten hocken auf ihr, William Forsythe persönlich und Ron Thornhill. Verlassen sitzen sie da, mit ihren weißen Socken und blanken Beinen, in ihren knallfarbenen Glitzertrikots. Siamesische Zirkusartisten? Vom Autor verlassene Figuren? Vladimir und Estragon? Rhythmisch verschoben skandieren sie Auszüge aus der Verteidigungsrede von Charles Manson, akustisch schwer verständliche Texte über eine traumatische Vergewaltigung unter Männern, über Rache und Identität, über Schuld und mangelnde Befriedigung.

Anrührig komisch ihr Versuch, zuvor zerlegte Satzteile sinnvoll wieder ineinander zu schachteln, sich gegenseitig „es ist meine – deine – Verantwortung“ zuzuschieben, während der andere ertappt mit den Füßen tippelt. Dazu tanzt kein Ensemble, kein Forsythe, kein Thornhill. Es tanzen die in vier Reihen angeordneten zwanzig Lampenschirme, zusammen mit drei Prospekten, im steten Auf- und Niederfahren, zur musikalischen Zeiteinteilung eines balinesischen Gamelan-Orchesters. Vorhänge heben und senken sich, später eingestrahlt in Blau oder Rot, Gelb oder Schwarz, und geben den Blick auf waagerechte Streifen frei. Die zwanzig Lampions, eingeteilt wie ein Corps de Ballet, in „drei gegen eine“ oder „zwei gegen zwei“ Reihen, sind später mit schwarzen Hüllen bekleidet, die mechanisch raffbar sind, sodass das Licht sich scheinbar „ausziehen“ kann, was tatsächlich erotisch berührt. Die zwei Menschen aber sind längst weg.

Auch die Zuschauer erheben sich, um rasch durch die kalte Nacht umzuziehen, quer durch Frankfurt, ins Bockenheimer Depot. Dort sind die hohen Tore weit geöffnet, Licht dringt heraus, und eine einladende minimalistische Cocktailmusik, von Thom Willems als Bandschleife mit gelegentlich eintröpfelnder Pianomusik komponiert. Und jetzt – welche Überraschung! Vor uns liegt ein unendlich weiter Raum, offen und doch geschlossen, zur eigenen Erkundung. Es ist ein Labyrinth aus beweglichen Wänden, die von den Tänzern verschoben werden.

Unendliches Haus – in diesem Oxymoron liegt, sorgsam verdichtet, die ganze Tragweite des Problems. Denn das Haus hat Begrenzungen. Raum ereignet sich zwischen Weite, Großzügigkeit, möglicher (auch Bedeutungs-)Leere, und klaustrophobischer Definiertheit andererseits. Trennwände lenken die eigene Bewegung in schmalen Spuren außen um den Raum. Unangenehm. Zwischen zwei Stellwänden lässt sich aufatmen: hier verbirgt sich ein Séparée, im scheinbar Privaten lässt sich von hier aus ganz entspannt ein Duett verfolgen, das nur als ganzen Ensembletanz erkennt, wer sich von hier wieder wegbewegt.

Das Haus hört nie auf. Nur wer mutig die Schuhe auszieht kann hineinlaufen in den betanzten Raum und ins Innere des Labyrinths gelangen. Bequeme Polsterstühle warten wie verwehte Aschehaufen, zu zufälligen Inseln gruppiert. Wer hier sitzt, erhascht das Flüstern einer vor ihm sitzenden Darstellerin oder fühlt die Geschwindigkeit, mit der die Tänzer knapp an seiner Haut vorbeischrammen. Wer aufrecht bleibt, wird nie über den Blick von außen hinauskommen. Doch dann kippt die Inszenierung des Raumes um in Erzählung, und die Aufregung erlischt. Enttäuschend plakativ mimt ein Tän-zer den verurteilten Bösewicht als bedauerswerten Behinderten, während das Ensemble mit Jimi-Hendrix-Perücken zum harten Beat groovt oder, zehn Meter weiter, sich als Drag-Queens amüsiert. Ein hermetischer Wirrwarr an bedeutungsschweren Texten entfährt ihren Mündern, schlecht gesetzt, schlecht gesprochen, unverknüpfbar für den Theaterbesucher. Trotzdem schallt am Ende frenetischer Beifall durchs wieder auferstandene Depot.

Übrig bleibt das beglückende Gefühl, einer der bedeutendsten Rauminszenierungen beigewohnt zu haben, die je ein Choreograf in diesem Jahrhundert geschaffen hat. Und das niederschmetternde Gefühl, Zeuge eines schlampigen Stücks Tanztheater geworden zu sein.