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The Future Sound of Reading

Das nostalgische Dekor der digitalen Leseräume: Im Electronic Media Center auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten sich die Online-Buchhändler als gefühlsechte Kulturgutretter. Maschinenstürmer meldeten sich gleich gar nicht erst zu Wort  ■   Von Kolja Mensing

Der Online-Buchladen des Jahres 2005 wird so zum letzten großen Beweis für die List der Aufklärung

Richtig nette Buchhandlung. Die Räume sind groß und hell, an den Wänden stehen voll gestopfte Regale, und der Verkäufer hat ein freundliches Gesicht. „Guten Tag, Herr Meister“, begrüßt er einen Kunden, der gerade das Geschäft betreten hat. Man zieht sich in ein flauschiges Lesezimmer zurück, mit schweren Teppichen, noch mehr Regalen und bequemen Sesseln, und blättert zusammen in Büchern. „Das hier gefällt mir“, sagt Herr Meister, kauft das Buch – und zieht den Stecker: Die richtig nette Buchhandlung, die voll gestopften Regale und die schweren Teppiche gibt es nur im Internet, der freundliche Verkäufer und Herr Meister selbst sind sich als digital nachgezeichnete Personen begegnet.

So stellt sich Bertelsmann einen Online-Buchkauf im Jahr 2005 vor, und damit der Rest der Welt sich das auch vorstellen kann, hat der Konzern die kleine Szene mit Herrn Meister vorbereitet. Auf der Frankfurter Buchmesse konnte man sie sich ansehen: Journalisten, Buchhändler und Verlagsleute versammelten sich im Electronic Media Center in der Halle 4.0, setzten sich 3-D-Brillen auf und warfen einen Blick ins nächste Jahrtausend. Und siehe da, die Zukunft leuchtet hell.

Der Themenschwerpunkt in Frankfurt hieß in diesem Jahr „BuchInternet“: Die Veranstalter der Buchmesse haben den Online-Buchhandel entdeckt. Etwas spät, natürlich: Alle Beteiligten sind sich längst einig und warfen darum während der ersten Messetage auf den Podiumsdiskussionen und in kleinen Vorträgen einfach nur gut gelaunt mit Prognosen um sich. 60 Millionen Mark wurden im vergangenen Jahr von den deutschen Online-Buchhandlungen umgesetzt, wurde zum Beispiel stolz vermeldet, in diesem Jahr werden es 120 Millionen Mark sein: Das ist eine Zuwachsrate von hundert Prozent, der traditionelle Buchhandel schafft zur Zeit gerade 1,2 Prozent.

Die Marktforschungsunternehmen präsentieren auch sonst nur steil ansteigende Kurven. Immer mehr Internet-User, immer mehr Online-Buchhandlungen, immer mehr Cash-Flow: Gerade erst haben bei einer Umfrage knapp die Hälfte aller Online-Buchkäufer eine „maximale Zahlungsbereitschaft“ von 500 Mark und mehr pro Bestellung angegeben. Man kann sich vorstellen, dass bei amazon.com, BOL oder buch.de Goldgräberstimmung herrscht, obwohl noch keiner der großen Shops schwarze Zahlen schreibt und die Aktien der Unternehmen an der Börse hoffnungslos überbewertet sind.

Während in der Halle 4.0 vor den Großbildschirmen ökonomische Abenteuergeschichten erzählt werden, kann man in den Belletristik-Hallen der Buchmesse Gegenerzählungen sammeln. Die kleine Buchhandlung von nebenan ist zum literarischen Topos geworden. Am Stand von Rowohlt Berlin liegt Irene Böhmes Roman „Die Buchhändlerin“ aus: Zwei DDR-Biografien, Liebe, Alltag und Sozialismus werden vor den Regalen einer Volksbuchhandlung abgehandelt. Am Nymphenburger-Stand liegt der letzte Roman von Svende Merian, die vor vielen Jahren den „Tod des Märchenprinzen“ geschrieben hat: „Ach, hätt' ich nur genommen den König Drosselbart“ erzählt vom Sterben der Buchkultur: Marei – 39 Jahre alt, allein erziehende Mutter und Buchhändlerin – muss sich entscheiden, ob sie ihre schnuckelige Sortimentsbuchhandlung angesichts der schlechten Umsätze in einen Ramschladen verwandeln soll.

Marei stellt man sich etwa so vor wie die knuddelige Buchhändlerin, die in einem Kinderbuch des Carlsen Verlags – „Ich hab' eine Freundin, die ist Buchhändlerin“ – erklärt, was eigentlich ein Barsortiment oder ein Index ist. „Lesen ist toll“ steht auf ihrem T-Shirt: eine Buchhändlerin zum Liebhaben.

„Für diejenigen von uns, die in Buchläden arbeiten, diesen hunderttausenden von Buchläden, die in ihrer staubigen Glorie auf der Oberfläche unseres Planeten verstreut sind, hat dieser Job etwas seltsam Romantisches“, findet in dem Roman „Der Buchhändler“ (btb) des kanadischen Autors Matt Cohen ein verliebter Buchhändler: In der emotional unterkühlten Dienstleistungsgesellschaft wird die Buchhandlung zum letzten Hort des Gefühls und der Romanze. Davon erzählen Bücher – und Filme wie „Notting Hill“: „Ich bin auch nur ein Mädchen, das vor einem Jungen steht und darum bittet, von ihm geliebt zu werden“, erklärt sich die Märchenprinzessin Julia Roberts zwischen den voll gerümpelten Regalen der altmodischen Reisebuchhandlung dem Buchverkäufer ihrer Wahl.

Hugh Grant spielt den altmodischer Einzelhändler, der seine Buchhaltung noch mit einem Taschenrechner macht und nicht einmal einen Anrufbeantworter besitzt: ein von den Versuchungen des Informationszeitalter noch unberührter Buchhändler-Körper, auf den sich die emotionalen und erotischen Diskurse umso leichter einschreiben können. Notwendige Bedingung ist das allerdings nicht: In „E-mil für Dich“, dem zweiten BuchhändlerInnen-Liebesfilms dieses Jahres, lernen sich Meg Ryan und Tom Hanks – sie die Besitzerin einer kleinen Kinderbuchhandlung, er der Chef einer großen Buchhandelskette – in einem Chatroom kennen und schicken sich romantische Briefchen per Elektropost. Auch unter verschärften High-Tech-Bedingungen zieht sich die Liebe am Ende des 20.Jahrhundert ins letzte emotionale Reservat zurück: in den Buchladen.

Das haben auch die Online-Buchhandlungen erkannt. „Love Books?“, fragt BOL in seinen Anzeigen, und Andrew J. Simpson von BOL Deutschland erklärte in Frankfurt während einer der unzähligen Podiumsdiskussionen, man werde in Zukunft in der Werbung „das Thema Emotionen stärker besetzen“.

Den ersten Preis beim Wettbewerb um die „10 besten Themenbuchhandlungen im Internet“ gewann konsequenterweise Homo.de. Neben schwuler Literatur zum Bestellen gibt es auf diesen Seiten Chatrooms und Kontaktanzeigen. Trotz aller digitaler Spielereien kommt also auch die Online-Buchhandlung zuletzt wieder beim Menschen an – mit Fotos von „echten Buchhändlern“ auf den Seiten oder mit einem Call-Center, das rund um die Uhr besetzt ist: „Es gibt Leute, die mitten in der Nacht unsere Hotline anrufen und gar kein Anliegen haben“, erzählt ein Mitarbeiter von booxtra.com, „die wollen einfach nur wissen, ob jemand da ist.“

Es ist jemand da, und wenn nicht, dann sieht es wenigstens so aus: Die Internet-Buchhändler haben längst verstanden, welches Potential in den belletristischen Gegenerzählungen und Hollywood-Romanzen steckt. Zur Zeit arbeiten sie heftig daran, „die Standardisierung des Kulturgutes Buch“ (Klaus Eierhoff, Bertelsmann AG) im Netz hinter der gut gerenderten Simulation des kleinen Buchladens um die Ecke zu verstecken. Garantiert gefühlsecht: Das ist der Online-Buchladen der Zukunft.

Kein Wunder, dass Maschinenstürmer und Kulturpessimisten sich bisher in Frankfurt gar nicht erst zu Wort gemeldet haben: Das Klagelied vom Ausverkauf der Buchkultur verliert sich inzwischen in den nostalgischen Dekors der Online-Buchhandlungen. Im digitalen Leseraum mit den voll gestopften Bücherregalen und den Lesesesseln ist all das – dialektisch gesprochen – aufgehoben, was bereits als verloren galt. Der Online-Buchladen des Jahres 2005 wird so zum vielleicht letzten großen Beweis für die List der Aufklärung. Die kulturpessimistische Deutungsmacht werden schon bald nicht mehr die Bedenkenträger in den Feuilletons innehaben, sondern die Manager der großen High-Tech-Konzerne.

Eine Pressekonferenz von IBM auf der Frankfurter Buchmesse führte diesen Wechsel schon einmal vor. „Bücher sind, wenn man so will, Massenware“, erklärte Rolf Hafner, Leiter des Geschäftsbereichs Drucksystem, und erklärte in einem kleinen, eleganten Vortrag, warum das Buch heutzutage kein originelles Weihnachtsgeschenk mehr ist – „genau wie die Krawatte“. Die Rettung für das singuläre Kulturereignis Literatur hatte Rolf Haffner vor sich auf dem Rednerpult liegen: ein blassgelb eingebundenes Buch, den Prototypen des sogenannten „Individualbuchs“. Man klickt sich auf einer Webseite – zum Beispiel bei buch.de – nach Belieben ein paar Literaturstellen zusammen, und ein paar Sekunden später druckt ein IBM-System dann ein Buch, das es garantiert nur einmal gibt: ein Individualbuch eben. „Print on demand“ heißt diese Technologie, die für Kleinstauflagen von Fachliteratur entwickelt worden ist und den Verlagen Lagerkosten und Fehlkalkulation ersparen soll. Richtig eingesetzt, glaubt man Rolf Haffner, erspart sie dem Buch den Tod.

Man wird Herrn Haffner glauben müssen. Schließlich hat er prominente, wenn auch ökonomisch nicht ganz so erfolgreiche Vordenker. Hatten nicht Gilles Deleuze und Félix Guattari vor zwanzig Jahren in ihrer Einführung zu den „Milles Plateaux“ von „einem funktionellen, pragmatischen Buch“ geträumt? „Findet die Stellen“ hieß es damals, ganz provokativ: „Nehmt euch, was ihr wollt ... Es gibt keinen Tod des Buches, nur eine neue Art zu lesen.“ Die Postmoderne ist nun endlich zu sich selbst gekommen. Man kann sie sogar anfassen: Nach der Pressekonferenz durfte man im Individualbuch blättern. Und siehe da, es fühlt sich gut an.

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