: Der Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren
■ Das Orphtheater hat ein Brecht-Fragment gefunden, das bisher noch niemand auf die Bühne gebracht hat. „Hannibal“: Der Feldherr zieht über die Alpen und siegt sich zu Tode
Manchmal möchte man seinen Augen nicht trauen. Als im vergangenen Jahr Bert Brechts 100. Geburtstag flächendeckend im Feuilleton und auf sämtlichen Bühnen der Republik gefeiert wurde – der arme B. B. lag bereits 42 Jahre tot auf einem Ostberliner Friedhof – war man sicher, nun endgültig jedem Husten von Eugen Bertold Friedrich auf der Bühne gelauscht zu haben.
Letzte Woche dann die Überraschung: Das Berliner Orphtheater kündigte eine Brecht-Uraufführung an: „Hannibal“, 1922 erarbeitet, war ein Fragment geblieben, das bis dato schlicht niemand ernsthaft versucht hatte auf die Bühne zu bringen. Und das vielleicht, wie sich im Laufe der Premiere herausstellen sollte, mit gutem Grund. Blecherne Stimmen aus Lautsprecherboxen empfangen im Theater am Halleschen Ufer die Zuschauer, die im Halbkreis auf der Bühne um eine darauf neu aufgebaute weitläufig auslaufende Bühne platziert werden.
Hans Hugo Ellerfeld hat diesen schönen Raum geschaffen, der anfangs allein vom Ton beherrscht wird. „Die Reiter sollen einschwenken“ fleht eine Flüsterstimme und eine andere scheint zu formulieren, was alle hoffen: „Ich wünschte, dass die Schlacht noch nicht gleich anfinge.“ Dabei sind sie schon mitten darin. Der Schnee der Alpen hat Hannibals Kriegern das Hirn zerfressen. „Sonne“ ist alles, was diese Kreaturen noch formulieren können. Es bringt sie immerhin auf den Weg nach Rom, wo ihr Feldherr ja sowieso hinwollte. Vier Hutträger in Anzügen mit dunklen Sonnenbrillen vor den Augen, eine unverhohlene Mischung aus 20er-Jahre-Mafiosi und den Blues Brothers, sitzen in tiefen Sesseln und schweigen ins Publikum. Geschrei, Bewegung, elektronische Musik, dann der gleiche Dialog noch einmal in einem anderen Tonfall.
Worum es geht hinter der agitatorischen Hysterie, ist schwer zu erraten. Hannibal scheint ein starker Mann zu sein, aber einsam und deshalb am Ende erledigt. Die Soldaten bilden pro forma eine Gemeinschaft, sind jedoch durch Brot-, Sonnen- und Ereignislosigkeit derart demoralisisiert, dass sie in ihrer Autoritätsfixiertheit ohne klare Ansagen beginnen Amok zu laufen. „Wenn man doch nur einen Feind sähe – wir siegen uns zu Tode.“ Susanne Truckenbrodts Inszenierung zeigt im ausgefeilten Lichtdesign von Hennig Streck einige überzeugende Tableaus. Ihre Zusammenstellung in immer wieder einander abwechselnden chaotischen und statischen Szenen ist jedoch ermüdend. Auch das häufige Wiederholen von kurzen Dialogen wirkt weniger wie ein inszenatorischer Kunstgriff als ein verzweifelter Versuch, das Manuskript zu längen oder doch zumindest mit Bedeutung aufzuladen. Die enorme Bildkraft der Sprache des frühen Brecht schreie nach Theater, begründet das Orphtheater die „Hannibal“-Uraufführung. Das Theater seinerseits schreit allerdings auch. Nach Dramaturgie zum Beispiel. Und manche Fragmente sind nicht ohne Grund als Fragmente in Büchern geblieben. Das wahre Kunststück des Orphtheaters ist es, von den Brecht-Erben überhaupt die Rechte zur Uraufführung bekommen zu haben.
Christiane Kühl‚/B‘
Bis 24. 10., jeweils 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32
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