Kultourbahn und Kulturwahn

■ Am Wochenende dreht die „Kultourbahn“ ihre zweite Runde, Galerien öffnen und Daniel Harding macht erstmals den Dirigenten-Chef

Rein. Stempeln. Setzen. Ruckelruckel. Raus. – Es gibt selbst im mediokresten Leben ohne Zweifel größere Abenteuer zu erleben als eine Fahrt mit der Bremer Straßenbahn gemeinhin in Aussicht stellt.

Aber wie klingt das: Straßenbahn fahren und dem feinen Herrn Mark Scheibe dabei zusehen, wie er das Klavier traktiert? Bahn fahren und Weserburg-Direktor Thomas Deeke dabei zuhören, wie er das delikate Verhältnis von Schokolade und Kunst erörtert? Oder lieber Straßenbahn fahren und die letzten Pfennige, die man am kommenden, verkaufsoffenen Sonntag nicht in den gierigen Schlund des Einzelhandels geschleudert hat, dem Auktionator Arie Hartog von Marcks-Haus zu Füßen zu legen, auf dass er Ihnen eine Graphik des französischen Künstlers Alain Clément überreicht?

Klingt gut. Und, mehr noch, ist sogar realistisches Wochenend-szenario. Denn am Sonntag fährt zum zweiten Mal die „Kultourbahn“ auf ihrem Rundkurs durch die Bremer Innenstadt. Bereits vor einem Monat hatte dieses von der Bremer Straßenbahn AG und hiesigen Kulturschaffenden ins Leben gerufene Projekt die „Musikstadt Bremen“ vorgestellt. Diesmal will die Kultourbahn BremenbesucherInnen und Einheimischen die bildenden Künste nahe bringen.

Ab 14 Uhr kurvt die auffällig bemalte Bahn vier Stunden lang zwischen Domsheide, Sielwall, Brill und Pappelstraße im Kreis herum und wird neben den erwähnten Auftritten von Mark Scheibe (14.17 Uhr) oder Thomas Deeke (15.05 Uhr) in der Bahn und an den Haltestellen Programmangebote der Kunsthalle, des Bremer Theaters, des Übersee-Museums, der Böttcherstraße sowie einzelner KünstlerInnen bieten. Außerdem besteht die Möglichkeit, sich mit Shuttle-Bussen alle 50 Minuten von der Haltestelle Am Dobben aus zum Focke-Museum und zu Radio Bremen bringen zu lassen, wo ein Tag des offenen Hörspielstudios geplant ist. Auch Katrin Rabus setzt vom Hauptbahnhof einen Shuttle ein, der Interessierte zu ihrer Galerie in der Plantage chauffiert.

Ob die Kultourbahn auch im kommenden Jahr Werbung für den Kulturstandort Bremen machen können wird, ist keineswegs gesichert. Nach Auskunft des BSAG-Sprechers Wolfgang Pietsch bedarf das Projekt der finanziellen Unterstützung seitens der Stadt. Bislang habe aber kein Ressort signalisiert, sich an den Kosten beteiligen zu wollen. Laut Katrin Rabus geht es dabei um knapp 7.000 Mark pro Kultourbahn-Einsatz.

Wer am Sonntag in der Kultourbahn keinen Platz finden sollte, hat dennoch jede Menge Gelegenheit, an den Werken bildender KünstlerInnen vorbei zu stolpern. Die Galerien von Claudia Delank, Barbara Claassen-Schmal, Ursula Mock, Katrin Rabus sowie die Galerien beim Steinernen Kreuz, Hartwig und im Winter veranstalten am Samstag und Sonntag zwischen 11 und 18 Uhr ein offenes Galerienwochenende. Dieselben Galerien zeigen in der Glocke ab Samstag ebenfalls Zeichnungen und Bilder der KünstlerInnen Kazue Yoshikawa Miyata, Mercedes Alonso, Michael Gitlin, Elke Hergert, Anton Paul Kammerer, Uwe Kirsch und Christiane Maier.

Schlapp machen gilt nicht: Nach der Fahrt mit der Kultourbahn und dem kunstbildenden Spurt durch alle Etagen des Konzerthauses muss der ermattete Bremenbesucher im Gestühl der Glocke Platz nehmen. Daniel Harding, 24-jähriger Stardirigent, gibt am Samstag um 20 Uhr seinen Einstand als neuer Chef der Deutschen Kammerphilharmonie. Auf dem Programm stehen Mozart und Schubert. Musiziert, nicht gemalt. zott

Die Kultourbahn startet am Sonntag um 14.02 Uhr an der Domsheide zu ihrer Rundfahrt, wo sie bis 18 Uhr im 50-Minuten-Takt wieder hält. Das offene Galerienwochenende findet Samstag und Sonntag zwischen 11 und 18 Uhr statt. Daniel Harding dirigiert in der Glocke am Samstag um 20 Uhr. Eine Stunde vor dem Konzert wird die Ausstellung der Privatgalerien in den Räumen der Glocke eröffnet und ist dort bis Mitte Januar 2000 zu sehen