■ Der Inzestprozess gegen den 11-jährigen Raoul ist kein Einzelfall: 11.000 Jugendliche sitzen in den USA zum Teil langjährige Haftstrafen ab. Mitleid erfahren sie nicht, denn: Sie haben den Glauben der Eltern an die Unschuld der Nation zerstört  Aus Washington Peter Tautfest
: Der Krieg der Eltern gegen ihre Kinder

Die kriminellen Jugendlichen dürfen nicht wie Jugendliche, sondern müssen wie Kriminelle behandelt werden“

Einen begeisterten Aufschrei der Zuhörer löste der kleine, eingängige Vers aus: „You do adult crime, you do adult time“, sagte der Gouverneur von Pennsylvania auf dem Parteitag der Republikaner 1996. Zu Deutsch: Wie ein Erwachsener soll bestraft werden, wer erwachsene Verbrechen begeht. Die jubelnden Erwachsenen, die aus den weißen Vororten großer Städte kamen, ahnten wohl nicht, dass sie dabei nicht den Jugendlichen aus den Gettos, sondern ihren eigenen Kindern den Krieg erklärten. Denn die alles überschattenden Verbrechen, die wie ein Alb auf dem Bewusstsein des Landes lasten, begingen in diesem Sommer ja keine schwarzen Kids, sondern zwei Jugendliche aus „guten Hause“. Mit Gewehren schossen sie in ihrer Schule in Littleton, Colorado, um sich und brachten 13 Menschen um.

„Wir sind dazu übergegangen, in unseren Kindern und Jugendlichen nicht mehr die Zukunft, sondern den Untergang unseres Landes zu sehen“, sagt Deborah Hauser von der Washingtoner Gruppe Youth Advocates, die sich besonders für die sexuellen Rechte von Jugendlichen einsetzt. „Amerikaner fürchten sich inzwischen vor ihren eigenen Kindern, als lebte die Gesellschaft kollektiv in einem Roman von Stephen King“, meint Sandy Close, Gründerin der Zeitschrift YO (Youth Outlook), die sie mit Getto-Jugendlichen im Raum San Francisco macht.

Die Jugendgerichtsbarkeit der USA, die jetzt genau 100 Jahre alt ist, wurde in vielen Bundesstaaten so gut wie abgeschafft. „Damals bekannte sich Amerika zu dem im westlichen Denken verankerten Grundsatz, dass Jugendliche besonderen Schutzes bedürftig, besonders prägsam und im Grunde ihres Herzens unschuldig sind“, lehrt Jack Spencer, Professor an der Purdue University in Indiana. In seinen Seminaren diskutiert er die Jugendkriminalität sowie deren Darstellung in den Medien.

„Die amerikanische Jugendgerichtsbarkeit war von Anfang an umstritten. Sie wurde von links und rechts angegriffen.“ Die Linken pochten darauf, dass Jugendliche die gleichen verfassungsmäßigen Garantien haben müssten wie Erwachsene. In der Tat bedurfte es einer Reihe höchstinstanzlicher Urteile, um sicherzustellen, dass auch bei Jugendlichen das Prinzip der Unschuldsvermutung gilt und der zweifelsfreie Nachweis einer Untat Voraussetzung für eine Verurteilung ist.

Die Konservativem hingegen meinten, dass kriminelle Jugendliche wie Kriminelle und nicht wie Jugendliche zu behandeln seien. „Diese Debatte hat nach den Schulmassakern neuen Auftrieb bekommen“, erklärt Spencer. Es verwundert ihn nicht, dass der 11-jährige Raoul (siehe unten) ausgerechnet in dem County verhaftet wurde, in dem sich das Massaker von Littleton ereignete. „Die Behörden stehen unter extremem Druck, vorbeugend und strafrechtlich zugleich tätig zu werden, um eine Wiederholung der Katastrophe zu verhindern.

Hinzu kommt die Art des dem Kind angelasteten Fehlverhaltens. Außer auf Gewalt reagiert die US-amerikanische Öffentlichkeit besonders hart auf sexuelle Vergehen. Zumal man annimmt, dass die Schießwütigen von Littleton sexuell missbraucht worden waren und so von Opfern zu Tätern wurden. Laut Spencer sehen die Amerikaner in den horrenden Beispielen jugendlicher Gewalt an Schulen den Verlust nicht nur der Unschuld der Kinder, sondern der Unschuld des ganzen Landes. Gewalt geht für sie auf einmal nicht mehr von Minderheiten aus, sondern kommt aus der „Mitte der Gesellschaft“.

Die Jugendfeindlichkeit in den USA ist also ein ressentimentgeladener Affekt gegen die Veränderungen, die die Moderne mit sich brachte. Die Amerikaner trauern den „guten alten Zeiten“ der vermeintlichen Unschuld ihrer Nation nach und bestrafen für diesen Verlust ihre Kinder, in deren Verbrechen sie ihn personalisiert finden; so sieht das zumindest Deborah Hauser von den Youth Advocates. Das Bild, das sich die Nation von ihren Teenagern macht, sei geprägt von jenen Blondschöpfen, die auf den Schulhöfen mit Schrotflinten auftauchen. „Das also ist es, was bei den Investitionen in die Jugend herausgekommen ist“, lautet der übliche Vorwurf. Eine solche Jugend ist die Liebe und das Geld nicht wert, die man in sie gesteckt zu haben glaubt.

Dabei wurden vor der Abschaffung der Sozialhilfe 1996 zwar 250 Milliarden US-Dollar für die Unterstützung der Alten, aber nur 20 Milliarden für die soziale Unterstützung von Kindern ausgegeben. „Diese Einstellung leitet eine verhängnisvolle Abwärtsspirale ein“, fürchtet Hauser. „Denn auffälliges Verhalten von Jugendlichen ist eine Reaktion auf ihre soziale Lage. Jugendliche Auffälligkeit aber mindert die Bereitschaft der Gesellschaft, in die Jugend zu investieren, was wiederum deren Lage verschlechtert.“

Auf einen noch ganz anderen Aspekt verweist Mike Males, der Verfasser des Buches „10 Mythen über Amerikas Jugend“: „Die amerikanische Erwachsenengesellschaft ist die permissivste aller Zeiten. Amerikaner haben die höchste Abtreibungs-, Scheidungs- und Kriminalitätsrate der Welt sowie den höchsten Drogenkonsum. Die eigenen Sünden aber lastet man gern anderen an.“ Zum Sündenbock für diese Laster wurden laut Males nacheinander alle Minderheiten gemacht, von denen aber jede für sich inzwischen zu einem Wählerpotential geworden ist. Jugendliche können nicht wählen, „sie sind die letzten Opferlämmer, die für die Sünden der Eltern büßen müssen“.