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Älter werden kann nicht gut sein

Wer vorzeitig ging, schloss leise und höflich die Türe: Thomas Bischoff, neuer Hausregisseur der Berliner Volksbühne, inszenierte Hans Henny Jahnn mit einer Aura des Hehren. Goodbye to Publikumseinmischung am Rosa-Luxemburg-Platz  ■   Von Christiane Kühl

Ein Käfer, der eine Kotkugel vor sich her wälzt, war den Ãgyptern würdig, dem Sonnengott als Vorbild zu dienen. Das Christentum kann Gott nicht einmal nackt denken. Wir verstehen die Schöpfung, konstatiert Hans Henny Jahnn verächtlich, nur in schwächlichen Theorien.

In Berlin trachtet das ortsansässige Theater, sich in dieser Spielzeit neu zu erschaffen. Eben eröffneten die Kammerspiele des Deutschen Theaters die erste Saison unter der künstlerischen Leitung von Stefan Otteni und Martin Baucks, Claus Peymann renoviert am Berliner Ensemble, an der Schaubühne proben Sasha Waltz und Thomas Ostermeier mit Blick auf 2000, und am Mittwoch lud die erneuerte Volksbühne zur ersten Premiere des Herbstes. Am Rosa-Luxemburg-Platz gibt es keinen spektakulären Intendantenwechsel, aber eine Änderung in den Personalangelegenheiten, die die Schlange vor dem Pressestand erregt anschwellen ließ: Mit der Inszenierung von Hans Henny Jahnns „Der gestohlene Gott“ gab Thomas Bischoff seinen Einstand als neuer Hausregisseur. Neben Frank Castorf, Hans Kresnik, Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief soll der 42-Jährige vorerst vier Produktionen herausbringen. Und das, obwohl der geborene Leipziger bekannt ist für seine strenge Textarbeit und öffentlich von einem „elitären Theater“ träumt, in dem Publikum und Theatermacher „einander ehren“. Nicht eben das, womit die Volksbühne berühmt wurde.

Außen am Haus flackern Fackeln in trotziger Siegesgewissheit, auf der Bühne leuchtet eine schmale Tür. Der Rest ist dunkel. In das hohe Halbrund der Bühne hat Uta Kala keinen Ausweg gebaut. Ein Mann steht dort wie ein Möbel, eine Frau wird sich bald, von ihrem überlebensgroßen Schatten flankiert, furchtsam an der Wand entlangtasten. Der Blick auf die Bühne ist der Blick auf ein Mausoleum. Im Verlauf des Stückes wird ein Großteil der Protagonisten in den Tod gehen, aber, wie so oft in seinen Inszenierungen, schickt Bischoff ihre Todesstarre voraus.

Sebald hat einen Gott gestohlen. Einen Liebesgott, als Souvenier. Sebald (Lutz Blochberger) ist stolz auf seinen Diebstahl, die kleine Grenzüberschreitung für die Frau, die er liebt, geliebt hat und hasst. Aber die Frau interessieren weder Gott noch Sebald. Frau Sebald (Astrid Meyerfeldt) nämlich hat selbst einen Gott gestohlen eines Nachts, einen aus Fleisch und Blut names Hygin. Aus dieser Vereinigung stammt Leander (Milan Peschel), „Spiegelbild am abgetrennten Ort“ von Hygins ehelichem Sohn Leonhard (Hans-Werner Leupelt), der seinerseits ein Gott ist, wie die ihm zu Füßen liegenden Mädchen beweisen. Selbst seine Schwester Wendelin (Cordelia Wege) – die, noch ohne es zu ahnen, Leanders Halbschwester ist – liebt ihn abgöttisch. Verwirrend viele Götter also bei Jahnn im Jahre 1926. Was aber entscheidend ist, ist ihre Religion.

Für die drei Kinder formuliert sie Leonhard: „Ich glaube an die wilde, leuchtende, entfesselte Welt.“ Dem „Betrug eines zahmen Lebens“ wollen sie nicht erliegen. „Wir müssen schön bleiben“, schreit Wendelin, „wir müssen mit zwanzig sterben.“ Die Religion der Jugend heißt Jugend. Älter werden kann nicht gut sein, weil dann die Liebe nicht mehr heiliger als alle Vernunft ist. Leonhard paart Leander, den er liebt – „o Mysterium des Blutes“ –, mit seiner Schwester, die in jenem ihren Bruder lieben darf. Sie wird schwanger und vom Vater ob der Blutschande verstoßen. Was den Liebes- und Gemeinschaftswahn der 15-Jährigen selbstredend nur weiter anstachelt. „Enden im Endlichen! Erlösung!“ heißt die Losung. Sie führt Wendelin und Leander dazu, sich aufrecht Hand in Hand von Leonhard lebendig begraben zu lassen.

Jahnns Werk ist voll expressiver Verherrlichung des Irrationalen, rauschhaften dionysischen Predigten, mystischer Überhöhung von Eros und Tod. Sein überbordendes Pathos mit den formalistischen Kopfarbeiten Bischoffs zu kombinieren, scheint auf den ersten Blick unmöglich und so auf den zweiten spannend. Auf den dritten, realisiert in der Volksbühne, wie eine Vakuumproduktion. Bischoff nimmt den Figuren jede Leidenschaft außer der Abscheu, mit der sie bei ihm die Worte aus ihrem Mund spucken. Die glühenden Verfechter des Kreatürlichen werden wie marmorne Schachfiguren über die Bühne geschoben, ihre heftigen Worttiraden entspringen nicht den erregten Seelen, sondern einer Propagandamaschine. Pubertät hat in ihrer Egozentrik immer etwas mit emotionalem Totalitarismus zu tun, aber bei Bischoff verordnen sich die Pubertierenden ihre Utopie wie Feldwebel. An keiner Stelle wird das Pathos mit Ironie gebrochen.

Die Figuren als gelenkte Kopfgeburten wären nach Jahnn Ausgeburten schwächlicher Theorie. Der knapp dreistündigen Inszenierung kann man Schwäche nicht vorwerfen, im Gegenteil, sie erdrückt mit ihrer Trockenheit. Elitär muss man das nicht nennen, aber dieses Theater produziert die Aura, gegen die die Volksbühne so erfolgreich kämpfend gespielt hat: die Aura des Hehren. Die Bühne ist eine hermetische Welt, die Einmischung verbietet. Castorf wollte einen Theater im landläufigen Sinne gestaltenden Regisseur am Haus, und den hat er bekommen. Selbst die Leute, die frühzeitig gingen, schlossen leise die Türen.

Der Applaus am Ende war vermutlich der dünnste, mit dem eine Volksbühnen-Premiere in den letzten sieben Jahren bedacht wurde. Das ist kein Qualitätsurteil. Was schlimm ist, ist, dass dieser Applaus so höflich war. Kein Bravo, kein Buh, nicht ein einziges. Das ist, volksbühnentechnisch gesprochen, die Niederlage.

„Der gestohlene Gott“ von Hans Henny Jahnn. Regie: Thomas Bischoff, Bühne und Kostüme: Uta Kala. Nächste Vorstellungen: heute, 30.10. und 6.11., Volksbühne, Berlin.

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