■ Was passierte, wenn der 11-jährige Raoul ein Räuber wäre
: Kinder, Strafrecht, SexualdeIikte

Wenn in der Bundesrepublik das Thema Kinderkriminalität auf die Tagesordnung gesetzt wird, dann ist die Kontroverse vorgezeichnet: Beharren die einen auf der mangelnden Zurechnungsfähigkeit der unter 14-Jährigen, akzentuieren die anderen die Notwendigkeit, frühzeitig Recht und Ordnung einzuüben. Die Forderung nach Herabsetzung des Alters für die Strafmündigkeit ist Journalisten längst geläufig – im Konflikt um den jungen Rechtsbrecher, dessen Geschichte unter dem Namen Mehmet verhandelt wurde, erreichte die Debatte einen Höhepunkt. Und jetzt? Liest man die Berichte und Kommentare über den Fall des Schweiz-Amerikaners Raoul, scheint von dieser harten Auseinandersetzung nichts mehr geblieben. In bemerkenswertem Gleichklang und in äußerst scharfen Tönen schelten die deutschsprachigen Kommentatoren die US-amerikanische Justiz für die Zulassung der Anklage gegen den 11-Jährigen wegen eines Sexualdelikts. Die Entschiedenheit, mit der hier Gesinnung vorgetragen wird, steht dabei in den meisten Fällen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Maß an Informationen, das die jeweiligen Medien vermitteln. Da leider nicht angenommen werden kann, dass ein plötzlicher Gesinnungswandel die Sympathien für die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters und die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen für Kinder aus Deutschland weggefegt hätte, muss es andere Erklärungen für das plötzliche Engagement der Medien geben. Die generalisierende Feststellung, dass „Amerikas Justizsystem versagt“ habe, macht stutzig. Einen antiamerikanischen Unterton hat die Kommentierung allemal.

Vor allem aber ist zu fragen, ob ein ähnlich lauter Aufschrei erfolgt, wenn man dem Jungen statt eines Sexualdelikts einen Totschlag, einen Raub oder eine schwere Brandstiftung zur Last gelegt hätte? Wohl kaum.

Und tatsächlich steht der Vorwurf, dass die USA „puritanisch“ seien, ganz oben auf der Stichwortliste der Kommentatoren. Nun geht es im vorliegenden Fall aber nicht um sexuelle Freizügigkeit oder um FKK-Baden, sondern um den bislang ungeklärten und auch von den deutschen Medien nicht zu klärenden Vorwurf eines sexualisierten Übergriffs. Das ist, wenn Raoul ihn denn begangen haben sollte, kein harmloses, sondern ein schweres Delikt. Wer hier – und dafür gibt es die besten Gründe – die Anwendung des Strafrechts und seiner Sanktionen für Kinder ablehnt, muss es dann aber auch bei anderen Delikten, gesellschaftlich anerkanntermaßen „schweren“ Delikten, tun. Oliver Tolmein