Danach gibt es Schokokugeln

■ Kinder spielen Familie, also Krieg: Das Junge Theater zeigt „Familiengeschichten.Belgrad“, eine psycho–logische Analyse des Balkankriegs von der serbischen Autorin Biljana Srbljanovic. Sie ist gut. Und vor allem: ziemlich lustig

Tolles Stück, tolle Inszenierung, tolle Schauspieler: eine himmlische Dreifaltigkeit ist derzeit im Jungen Theater von oben herab – das Publikum quetscht sich hühnereng, doch hoch wie auf einer Kirchenempore – zu besichtigen. Und eine überaus Teuflische: die heilige Familie, Vater, Mutter, Kind, das Urmodell eines hierarchischen Biotops, das pure Grauen.

In dem Stück „Familiengeschichte. Belgrad“ zeigt die 29-jährige Serbin Biljana Srbljanovic die Geburt des Krieges aus der patriarchalen Familie. Sie ersetzt/ergänzt/erweitert/revidiert die herrschenden historisch-politischen Erklärungsmuster für das Gemetzel auf dem Balkan durch soziologisch-psychologische: der böse, böse Kommunismus; versuchte ethische Konflikte durch miese Gleichmacherei niederzuwalzen; konnte ja nicht klappen; haben wir immer schon gewusst; Tito ist an allem Schuld, der Osten eben, wie immer. Damit reicht Srbljanovics Stück weit über den konkreten Fall Jugoslawien hinaus. Wie immer in der Kunst: Es geht um Krieg und Gewalt im Allgemeinen.

Srbljanovic erlebte die NATO-Bomben hautnah. Anders als rund 300.000 Belgrader Serben flüchtete sie nicht. Dafür durfte sie im „Spiegel“ ganze Seiten zukleistern mit ihrem ergreifenden Kriegstagebuch, Erzählungen über Jobverlust, ängstliche Hamsterkäufe von Zwiebackbergen, Alpträumen, das Leiden an 50 Tagen Schlaflosigkeit und einer zu lang geratenen Nase. (In Wahrheit ist Srblanovic übrigens bildhübsch.) Sie zählt übrigens zu jenen Oppositionellen, die Milosevic und den ethnischen Separatismus in etwa genauso zu Kotzen finden wie die NATO-Bombardierung. Trotzdem wurden ihre Theaterstücke „Belgrader Trilogie“ und „Familiengeschichten. Belgrad“ bemerkenswerterweise in Belgrad oft und erfolgreich gespielt, bis zum Beginn des Nato-Kriegs. Jetzt fangen sie dafür allmählich an, die Bühnen zwischen Rom und Stockholm zu erstürmen. Das Junge Theater ist ganz vorne dabei. Es ist schneller, als es das Goethetheater vermutlich jemals sein kann. Respekt.

Das Stück beginnt mit einer archetypischen Situation, der Suppenkasperei. Nein, meine Suppe ess' ich nicht. Wie in der Erziehungsmaßnahme namens Märchen wird der Bub abgestraft: Er soll nicht widersprechen. Und wenn er schon so blöd ist, eigene Gedanken über die Suppe zu fassen, dann muss er diese Fehlleistung nicht auch noch öffentlich zugeben. Anders als im Märchen schlägt der Bub zurück und verbrennt seine Eltern, erwürgt sie später. Eine gewisse Diskrepanz zwischen Ursache und Wirkung ist hier nicht zu übersehen. Wie im Krieg.

Eine tranige strindbergsche Familienexegese muss der Betrachter allerdings nicht über sich ergehen lassen. Srbljanovic zeigt nämlich nicht Familie, sondern wie Kinder – mal scheinen sie fünf Jahre alt, mal zehn, mal vierzehn – Familie spielen. Handke demonstrierte im „Kaspar“ (Hauser) wie die Gesellschaft ein unbescholtenes Tabula Rasa-Hirn mit den herrschenden Sprachspielen verätzt: „Ich möchte sein, wie ein anderer gewesen ist.“ Auch Christa Wolf interessierte sich in den „Kindheitsmustern“ (Bremer Literaturpreis) für das Leid um das Lernen durch Nachäffen. Und auch Srbljanovics Kids trainieren eifrig Macho- und Tussengesten, knorrige und weinerliche Stimm-Einfärbungen, Geld zählen und Schmetterlingsgedichte schreiben, Unterwerfungs- und Rebellionssätze: „Wenn es mir nicht leid um das Pulver wäre, würde ich sie abknallen.“ „Die befreite Frau muss sich auf eine höhere Stufe der sozialen Leiter stellen.“

Selbst antidiktatorische Demonstrationen und Auswanderung (“Grönland ist nicht am Ende der Welt, schluchzt.“) gehorchen einem Schema. Das private und das öffentliche Schlachten als Schülertheater oder Kinderspiel: das hat vor allem einen Vorteil. Das Stück ist bisweilen saukomisch. Chaplin lachte im fernen Amiland über Hitler, Billy Wilder lachte über Hitler, warum sollte Srbljanovic mitten aus dem Bombenregen heraus nicht ein zaghaftes Grinsen probieren dürfen.

Erkan Althun, Martina Flügge und Tim Fleischer hüpfen, springen, robben vergnügt über die Bühne. Überaus virtuos mixen sie ihr Verhaltensrepertoire zusammen aus kindlicher Ungebärdigkeit und erwachsener Selbstkontrolle. Verenden durch Herzrasen oder Vergreisen ist am Allerlustigsten. Im genüsslichen Verarschen der blöden Alten sitzt auch schon der Keim der Anpassung. Und Liz Hencke spielt das fremde, verängstigte, schüttelgefrostete Kind so, dass man nicht immer genau weiß, ob sie „echt“ ist oder auch nur eine Mitspielerin im Straßenkindertheater.

Überhaupt das Schwanken: Dass es Thema hier ist, zeigt die Inszenierung von Anja Wedig, Eva-Maria Henschkowski, Ziv Frenkel, Katja Landsberg (Carsten Werner: „Die sind auch alle schon älter. So um die 25 Jahre.“) schon in der cirzensisch-kippeligen Eingangssequenz. Natürlich ist die Grenze zwischen Spiel und Ernst ungewiss und umkämpft wie die zwischen Serbien und Bosnien. Der Bub, der den Bub spielt, nähert sich – nach einer kurzen Metamorphose zum natürlichen viel lieberen, natürlich geschändeten Mädchen – der Fremden. Und protzt anschließend damit, sie flachgelegt zu haben. Erst ist das „echt“, dann das Imitieren durchschnittlicher Teeniearschlöchigkeit. Eindeutig „echt“ sind nur die Träume, Alpträume vom Alleinsein unter Feinden. Dannach gibt's Schokokugeln.

Barbara Kern

„Familiengeschichten. Belgrad“ ist bis zum Ende des Monats im Jungen Theater täglich außer Montag und Dienstag um 20 Uhr zu sehen. Kartenreservierungen sind möglich unter der Telefonnummer 700 141