Revolutionär der Kälte

Zurück in ein Universum, in dem alles gut wäre: Michel Houellebecq schreibt und singt gegen Maastricht, die 68er, den Kapitalismus, den Hass und die Einsamkeit. Dazu trägt er ein blaues Polohemd  ■   Von Volker Weidermann

Ich konnte mir durchaus vorstellen, mich unter einem dreckig braunen Himmel in einer riesigen Wohnung zu verschanzen, während am Horizont letzte sporadische Kämpfe verglühen würden. Später würde ich ausgehen, durch endgültig verödete Straßen laufen können.

Michel Houellebecq

„Schön. New York ist schön, wunderbar. Es ist eine Schönheit, die der Dämmerung gleicht.“ Michel Houellebecq sitzt mir gegenüber in einem winzigen Besprechungszimmer und erläutert seine Thesen zum Ende der Menschheit. „Wenn ich einen Film über den Weltuntergang drehen würde, würde ich ihn in New York drehen. New York macht aggressiv. Nirgendwo auf der Welt hassen sich die Menschen so sehr wie hier.“ Michel Houellebecq ist ein kleiner Mann mit ordentlich gescheiteltem Haar und verkrampfter Körperhaltung. Er trägt, wie schon beim Pressegespräch am Tag davor und bei seinem Konzert am Tag danach, ein himmelblaues Polohemd. Michel Houellebecq strahlt eine ungeheure Traurigkeit und Müdigkeit aus. Manchmal, im größeren Kreis von Pressevertretern, lacht er mitunter schrill auf. Dann denkt man, er ist vielleicht verrückt, oder er macht sich womöglich lustig über die ob seiner Untergangsthesen beunruhigten Frager und über den ganzen Skandal, den er mit seinen Romanen und Essays in Frankreich ausgelöst hat. Dort streitet man nun seit über einem Jahr darüber, ob dieser Mann ein Faschist ist, und es wird von einem „neuen Deprimismus“ in der Literatur gesprochen.

„Ich habe die Sache ganz gut im Griff“, antwortet Houellebecq auf die Frage, ob ihm dieser ganze Skandal nicht über den Kopf wachse. Der Eindruck, dass dieser Mann hier irgendetwas im Griff hat, drängt sich allerdings nicht gerade auf. Er lässt einfach alles irgendwie mit sich geschehen, widerspricht sich mitunter selbst und wundert sich höchstens darüber, dass sein letztes Buch „Elementarteilchen“ in Frankreich inzwischen 400.000-mal verkauft wurde und zur Zeit in 24 Sprachen übersetzt wird. Michel Houellebecq ist ein Star des Literaturbetriebs. Und er ist dessen Antistar par excellence. Wie er klein, gebeugt und leicht schlurfend durch die überfüllten Gänge der Frankfurter Buchmesse geht, wie er mit blasser, dünner, rotfleckiger Haut an dem großen Tisch zur Pressekonferenz zwischen stolzem deutschen Verleger und burschikosem Übersetzer sitzt, mit verknoteten Armen und Beinen, denkt man nur eins: Dieser Mann gehört nicht dazu. Und: Dieser Mann ist nicht gerne auf dieser Welt.

„Ich würde gern der beklemmenden Gegenwart der modernen Welt entkommen; in ein Universum à la ,Mary Poppins‘ zurückkehren, in dem alles gut wäre“, hat er in einem früheren Interview einmal gesagt. Heute sagt er: „Ja, es ist unerträglich. Deshalb schreibe ich ja. Um es auszuhalten. Nicht um irgendetwas zu verändern. Mein Schreiben verändert nichts an dieser Welt. Gar nichts.“ Und die Politik? „Nein, auch die Politik verändert nichts. Der Kommunismus, dieses grandiose Weltveränderungsprogramm, ist doch im größten Stil gescheitert. Was soll da jetzt noch kommen?“ Nichts. Für uns Menschen kann da nichts mehr kommen. Deshalb ist auch die Vision am Ende von „Elementarteilchen“, an dem eine erschöpfte Menschheit freiwillig zugunsten neuer geschlechtsloser, entindividualisierter Wesen abtritt, für Houellebecq ein Glücksversprechen. Und ein wirklichkeitsnahes dazu: „Es ist realistisch, dass sich der Mensch in eine andere Spezies verwandelt“, sagt er. „Der Prozess der Menschwerdung war sehr lang, und er ist auf natürlichem Wege erfolgt. Heute kann man endlich mit technischen Mitteln auf die Evolution Einfluss nehmen. Ich glaube, ich bin mit meinen Überlegungen nahe an der Realität.“

Die Menschheitsgeschichte, wie Houellebecq sie sieht, ist eine Unglücksgeschichte. Eine Geschichte der zunehmenden Vereinsamung, der Lieblosigkeit, der Ungerechtigkeit und des Hasses. Zwei Wertesysteme sind es, die das fundamentale Unglück der Menschen ausmachen: Geld und körperliche Attraktivität. In den Kämpfen um das eine wie um das andere zerfleischen sich die Menschen. Beide Kämpfe sind aussichtslos. Man kann nur heraustreten aus dem kämpferischen Treiben, „in sich selbst eine Art kalte Revolution verursachen“, heißt das bei Houellebecq. „Es reicht aus, nicht mehr mitzumachen, nichts mehr zu wissen, jede geistige Tätigkeit vorübergehend einzustellen. Es reicht im wahrsten Sinne des Wortes aus, für einige Sekunden reglos zu werden.“

Die Armut und das Nichtgeliebtwerden sind zwei grundlegende Erfahrungen in Houellebecqs Leben: 1958 in La Réunion als Kind eines Bergführers und einer Anästhesistin geboren, verloren diese schon bald jedes Interesse an ihrem Sohn und schoben ihn zu seiner verarmten Großmutter ab, um sich, im Vorfeld der 68er-Bewegung, selbst zu verwirklichen. Die 68er betrachtet Houellebecq bis heute als einen der letzten Schrittmacher hin zur völligen Individualisierung, zur totalen Bindungslosigkeit und zur Auflösung aller Sozial- und Familienstrukturen. Sie haben die Menschen einsam gemacht und frei bis zur Verzweiflung.

Frei und bindungslos bis zur Verzweiflung ist auch die Wirtschaft, wie Houellebecq sie sieht: Der „Markt“ und die „Werbung“ sind zwei weitere Kampffelder, auf denen Houellebecq sich tummelt. Hier liegt der letzte Tabubruch Europas noch nicht so lange zurück: Es war der September 1992, „als wir den Fehler begangen haben, Maastricht zuzustimmen“. Seitdem habe sich das Gefühl breit gemacht, dass Politiker vollständig die Kontrolle verloren haben und der „unerbittlichen Zwangsläufigkeit der Wirtschaft“ nichts mehr entgegengesetzt werden kann. Das Ende der Menschheit wird endlich auch das Ende des Kapitalismus, das Ende der Wirtschaft bringen müssen.

„Fin de Economique“ hat man mit Kugelschreiber auf das weiße Blatt Papier gekritzelt, das hinter der kleinen Bühne der Mainzer Galerie Walpodenstraße an die Wand gehängt wurde. Hier gibt Houellebecq sein einziges Konzert in Deutschland. Er steht allein vor den Mikrofonen und blickt nach innen. Eine aufgedrehte, langhaarige Blondine kommt auf ihn zu: „Ein Foto von uns zweien?“, fragt sie kurz, und schon hat sie ihren Arm um seine Schulter gelegt und lacht in die Kamera ihrer Freundin. Houellebecq wird so schmal wie nie, stopft die Hände in die Hosentaschen und starrt an die niedrige Gewölbedecke. Die Blondine verschwindet kichernd, und Houellebecq steht wieder alleine da. Um ihn herum hat sich ein großer, menschenleerer Kreis gebildet. Obwohl der Keller der Galerie gut gefüllt ist, halten die Besucher Abstand von dem einsamen Dichter im blauen Hemd, der sich merklich unwohl fühlt.

Bis die Musiker ihn mit auf die Bühne nehmen. Zwei Bassisten, ein Gitarrist, ein Schlagzeuger und Bertrand Burgalat, der, wie man hört, schon mit der Band Air und Nick Cave zusammengearbeitet hat, an den Keyboards. Sie spielen Electronic Sounds zwischen melancholischer Eingängigkeitsmelodie und schrägem Psychedelic-Rock. Houellebecq steht in der Mitte und spricht leicht melodiös und rhythmisch seine Verse dazu. Fast unbeweglich, nur ein leichtes Wippen des Fußes zum Takt, Hand in der Tasche, steht er das ganze Konzert über am Mikrofon und rezitiert laut seine Gedichte ins Mikrofon hinein. Er singt von Sehnsucht und von Hässlichkeit, vom Müll, vom Mond, vom Hass, von leeren Joghurtbechern und von der Einsamkeit. Das Publikum feiert Michel Houellebecq begeistert, und sein französischer Verleger scheint sich verliebt zu haben und tanzt glückstrunken mit jener Blondine noch auf die verzweifeltste Gedichtsvertonung seines Dichters ausgelassene Liebestänze.

Houellebecq hat einmal geschrieben, dass er sich wundere, mit welchem Willen zur letzten Konsequenz und mit welcher Leichtigkeit die Menschheit ihrem Untergang zustrebe. Jetzt steht er da, allein auf seiner Bühne, und schaut der Freude und dem Tanzen unbeteiligt zu. Die Revolution der Kälte ist nur nach innen wirksam, nach außen wirkt sie scheinbar auf viele eher erheiternd.

Michel Houellebecq: „Ausweitung der Kampfzone“. Aus dem Französischen von Leopold Feldmair, Wagenbach 1998, 160 Seiten, 32 DM „Elementarteilchen“. Aus dem Französischen von Uli Wittmann, DuMont 1999, 357 Seiten, 44 DM „Die Welt als Supermarkt“. Aus dem Französischen von Hella Faust, DuMont 1999, 98 Seiten, 29,80 DM