: Das Frühstück
Besuch in einem Flüchtlingsheim ■ Von Gabriele Goettle
Aus unerforschlichen Gründen ist Milovan beliebt. Und das, obwohl er Ausländer ist – sogar osteuropäischer Ausländer. Suppenküchenbesuchern dieser Herkunft schlägt gewöhnlicherweise erbitterte Abneigung entgegen, ganz besonders, seit sich die so genannte soziale Ungerechtigkeit unter der neuen Regierung verschärft hat. Es gibt mittlerweile Suppenküchen und Tageseinrichtungen, in denen fast nur Polen, Russen, Rumänen und Männer aus der ehemaligen Jugoslawischen Volksrepublik anzutreffen sind. Man hat ihnen diese Futterkrippen überlassen mit der stillschweigenden Übereinkunft, dass sie sich von den anderen fernzuhalten haben.
Milovan hingegen bewegt sich unbefangen und selbstverständlich zwischen den unberechenbaren deutschen Kostgängern. Und wenn er dann doch einmal als „Scheißausländer“ beschimpft wird, so findet sich sofort eine Gegenstimme, die sagt: „Lasst den, das ist ein netter, ausnahmsweise.“ Milovan hat es sogar geschafft, in den inneren Kreis der Suppenküchenelite vorzudringen. Vielleicht liegt es am Partisanengroßvater oder am jungenhaften Lächeln, dass der Antiquar ihn stets zu sich ruft, wenn noch ein Platz frei ist an seiner Seite. Vielleicht aber spielt er auch ein wenig die Rolle des Sohnes in dieser weitgehend kinderlosen Junggesellengesellschaft. Jedenfalls erweckt er eine gewisse Rührung.
Als er nach längerer Abwesenheit die Suppenküche der Adventisten in Spandau betritt, schallt ihm ein mehrstimmiges: „Nanu, Milovan?“ entgegen. Es freut ihn sichtlich. „Wir dachten schon, sie haben dich abgeschoben, sagt der Antiquar und räumt seinen Stuhl frei. „Noch nicht“, seufzt Milovan, „aber ich glaube, ich bin demnächst dran. Vielleicht sollte ich einen Antrag auf Australien stellen, ich hab ja Schlosser gelernt und Handwerker brauchen sie dort immer, erzählt man.“ Milovan setzt sich mit jenem verlegenen Lächeln, das er sich angewöhnt hat, um die Zahnlücke so weit als möglich mit den Lippen bedeckt zu halten. Er wirkt abgemagert und bekommt von einer älteren ehrenamtlichen Helferin fürsorglich den übervollen Suppenteller vorgesetzt. Essend erzählt er, dass man ihn wegen Schwarzfahrens zu soundsoviel Tagessätzen verurteilt hat, die entweder im Gefängnis oder per sozialer Arbeit abgegolten werden mussten, da er ja nicht über die Mittel verfügt, die Sache als Geldstrafe zu erledigen. Er hat ein viertel Jahr als Haus- und Putzknecht in einer sozialen Einrichtung gearbeitet. Unentgeltlich. „Was soll ich machen?“, seufzt Milovan, „ich fahre schon wieder schwarz, ich bekomme ja kein Fahrgeld und keine Monatskarte und nichts, ich kann doch nicht immer nur in meinem Zimmer bleiben und meine Lebensmittelscheine verfressen!“ Frédéric zeigt mit dem Suppenlöffel auf sich und sagt: „Du kannst nachher mit mir im Bus fahren, ich darf als Schwerbehinderter eine Begleitperson mitnehmen.“ Sein bulliger Tischnachbar ruft in polterndem Rheinländisch: „Wie ich in der B.Z. gelesen habe, fahrt ihr Brüder ja alle mit gefälschten BVG-Karten, die irgendwo in Jugoslawien und Polen gedruckt werden?“ Milovan zuckt lächelnd mit den Schultern und sagt bescheiden: „Ich hab keine, leider“, wodurch dem Rheinländer der Wind aus den Segeln schwindet und er nur noch ein unsicheres „So“ vor sich hinmurmelt. „Außerdem“, ruft der Antiquar streitlüstern aus, „ham auch BVG-Mitarbeiter heimlich tausende von gefälschten Marken verkauft, am normalen Schalter. Das stand auch in der B.Z. Vielleicht ist deine Marke ja gefälscht? Zeig mal her!“ Der Rheinländer winkt ab.
Den König von Spandau, dessen Schuppenflechte um Mund und Nase sich minimal gebessert hat, inspiriert das Thema: „Eins verstehe ich nicht“, sagt er mit aufgerichtetem Zeigefinger, „die BVG muss angeblich so viel Geld einsparen, dass sie sogar in der U-Bahn alle Zugabfertiger abgeschafft hat. Das macht jetzt alles der Zugführer selbst, die Ansage und Absage. ZURÜCKBLEIBEN! Aber sieht er denn, ob alle zurückbleiben? Er sieht nichts! Auf dem ganzen Bahnhof findet man keinen Menschen mehr, der ein Auge auf die Dinge hätte oder mal eine Auskunft geben könnte. Dafür steht eine schicke Info- und Notrufsäule dumm herum, und ab und zu sieht man mal zwei Uniformierte mit Hund aus- und einsteigen. Ja ist denn das richtig, dass man die Fahrgäste sich selbst überlässt? Und gleichzeitig steigen Jahr für Jahr die Fahrpreise! Aber Geld ist nie da. Wer bezahlt denn eigentlich diese Heerscharen von Fahrscheinkontrolleuren, die ständig auf uns losgelassen werden? Ich finde das nicht richtig. Wenn ich was zu sagen hätte, könnten Alte, Arme, Behinderte und Kinder frei fahren.“ Der Antiquar kichert: „Andere benutzen ja die öffentlichen Verkehrsmittel gar nicht!“ Der König von Spandau schlägt den Kragen seines dicken Wintermantels hoch und tritt majestätisch hinaus in die Mittagshitze.
Milovan reicht dem Antiquar ein leicht zerfleddertes Stück Papier zum Lesen hin. Es ist ein fachärztliches Attest zur Vorlage beim Amt, ausgestellt von einem Sozialmediziner. Es wird bescheinigt, dass sich der oben genannte Patient in fachärztliche Behandlung begeben habe. Er klage über Angstzustände, Schwindel, Herz- und Magen-Darm-Beschwerden. Die Untersuchung habe ergeben, dass der Patient unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leide, die einhergehe mit multiplen psychosomatischen Beschwerden. Als Ursache vermutet der Arzt den Tod des Vaters, der im Bürgerkrieg gefallen sei, und den Tod der Mutter, die sich in der Folge suizidiert habe. In Anbetracht des depressiven Affektes und der Schwere der somatischen Erkrankung, wird von einer Rückführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus ärztlicher Sicht abgeraten. Auch sei die jetzige Unterbringungssituation wegen der großen Unruhe eine zusätzliche Belastung, so dass im Sinne des Patienten eine entspanntere Wohnmöglichkeit empfohlen wird.“ Der Antiquar lässt ungerührt das Blatt sinken und sagt: „Machs wie ich, steck dir Watte ins Ohr. Das dämpft alle unangenehmen Geräusche schon mal um mindestens die Hälfte.“ Milovan faltet behutsam das Blatt wieder zusammen und steckt es in eine Zellophanhülle. Bubenhaft lächelnd bemerkt er: „Wenn ich vor die U-Bahn springe, dann höre ich auch nichts mehr.“ Der Kirchenmaler ruft streng: „Aber nicht vergessen, vorher einen Fahrschein lösen!“ Im allgemeinen Lachen entladen sich für Sekundenbruchteile die allseits spürbaren Spannungen.
Am darauf folgenden Sonntag sind wir mit Milovan zum Frühstück verabredet. Er hat uns eingeladen in sein Zimmer im Heim, wollte für den Kaffee sorgen und für die Beilagen. So war es abgemacht. Wir kämen ohne jedes Problem durch den Eingang, versicherte er zuversichtlich, falls er nicht selbst unten stehe, um uns zu empfangen. Versehen mit dem Notwendigen bis hin zu heißem Kaffee, für den Notfall, fahren wir durch Spandau. Vorbei an auffällig gestalteten Backsteinbauten aus jenen Zeiten, als die Großunternehmer noch glaubten, ihre Arbeiter mit lichten Siedlungen und angemessenen Werkswohnungen bei Laune halten zu müssen. Einige der Wohnungen haben sogar einen Balkon, was aber weniger dem Vergnügen der Bewohner zugute kommen sollte, als vielmehr einer bedeutsameren Gliederung der Fassaden. Die Fassaden der folgenden Stadtrandsiedlungen hingegen sind so schmucklos, wie es sich für Neubaublocks geziemt. Was das betrifft, würden die beiden weißen Blocks mit den Geranienkästen gar nicht weiter auffallen auf den ersten Blick, wäre da nicht der Maschendrahtzaun, der das Grundstück umgibt. Es ist das Flüchtlingsheim, direkt an der Straße stehend, in ungünstiger Lage, weit ab vom Zentrum. Eine Bushaltestelle befindet sich zwar direkt vor der Haustür, hier aber schließt sich der Teufelskreis für Personen ohne Fahrgeld. Wer sich zur „Beförderungserschleichung“ – einem Delikt, für das im Wiederholungsfall Gefängnisstrafe droht – nicht durchringen kann, bleibt zu Hause und schaut aus dem Fenster, auf den unablässig vorbeieilenden Verkehrsstrom. Es lehnen also in einigen der kleinen quadratischen Fenster herausschauende Menschen.
In den menschenleeren Fenstern sieht man nur trübes Licht brennen hinter defekten Jalousien und halb offenen Gardinen. Alles hier wirkt billig, von irgendwo her kommt ein brenzliger Geruch, die Grünfläche vor und zwischen den Häusern ist vertrocknet. In den Geranienkästen allerdings blüht es vergleichsweise üppig. Die Kästen aber hängen an ungewöhnlicher Stelle. Nicht wie üblich an den Fensterbänken, sondern an der Hauswand zwischen den Etagen, so als sollten sie signalisieren, dass es hier nicht um private Liebhaberei, sondern den sanitären Eindruck eines Quartiers geht.
Von der Straße aus durchquert man das offene Eingangstor, Plattenwege führen zu den Blöcken. Milovan ist nicht zu sehen, also begeben wir uns, wie beschrieben, zum rechten Hauseingang, werden aber mitten in der Bewegung gestoppt von einer polternden Stimme. In der Tür eines Flachbaues, der etwas nach hinten versetzt zwischen den Blöcken steht, lehnt ein kräftiger älterer Mann und winkt uns mit befehlender Armbewegung zu sich. Nachdem wir unsere Anwesenheit erklärt haben, wird der Mann aber überraschenderweise moderat und sagt berlinernd: „Da werden sie wahrscheinlich Pech haben. Der Milovan, der ist schon um acht in der Frühe weg, und ich glaub auch nicht, dass er so schnell wieder kommt. Aber sie können natürlich hier auf ihn warten, wenn sie wollen.“ Er bietet uns Platz an im kleinen Flur vor seinem Dienstraum. Der Mann ist Hausmeister und Pförtner. Er hat die Schlüssel- und Hausgewalt an diesem Sonntag Morgen. Seiner Autorität gewiss, lehnt er stämmig, mit aufgestützten Armen über seinem Schreibtisch und tastet, gelegentlich durch die Fensterscheibe blickend, routinemäßig das Gelände ab. Seine behaarten Arme verschwinden in einem straff gebügelten hellblauen Hemd, um den Bund der beigen Hose trägt er einen Ledergürtel. Das eigentliche Insigne seiner Macht scheint neben den Schlüsseln die hausaltarartig aufgestellte Kaffeemaschine zu sein. Sie ist umrahmt vom Zubehör und signalisiert, dass in diesem schmalen sachlichen Raum, einer amtlichen Tätigkeiten nachgeht und dabei Kaffee trinkt. Was könnte das anderes sein, als ein seiner Persönlichkeit entsprechendes Privileg? Es verschafft ihm Respekt, im Kampf gegen die Unbotmäßigkeiten der Heimbewohner. „Na, ich sage ihnen“, brummt der Gewaltige streng, „Grund hat er ja, der Milovan, wenn er sich hier dünne macht. Der ist nämlich geflogen, aus seinem Zimmer, aber hochkant! Grund? Na weil er den Ü-Schein nicht beigebracht hat!“
Meinen erstaunten Gesichtsausdruck deutet er richtig: „Der Ü-Schein, das ist der Kostenübernahmeschein von seinem zuständigen Sozialamt. Den brauchen wir natürlich. Ich weiß nicht, warum er den einfach nicht beibringt, obwohl er zigmal aufgefordert wurde. Er macht sich doch nur Probleme damit. Ist es nicht so? Jetzt isser aus seinem Zimmer geflogen, und wir haben ihn provisorisch untergebracht, drüben in der Kältehilfe – ja, die halten wir auch im Sommer offen – da kann im Prinzip jeder, der obdachlos wird, von Montag bis Donnerstag kostenfrei unterkommen. Aber dann ist es aus! Also, wenn der seinen Ü-Schein bis Dienstag nicht vorlegt – Montag halten die Ämter ja zu – dann isser fällig. Da gibt's kein Pardon mehr!“ Er schlägt mit der flachen Hand bekräftigend auf den Tisch.
„Wir werden da ein scharfes Auge drauf haben müssen“, fährt er fort, „dass der uns nicht hinten wieder heimlich reinkommt. Heute Nacht waren da auch zwei Albaner – schon wieder die Albaner, es sind immer die Albaner, die den Ärger machen – die beiden haben hier heimlich und illegal in den Betten gelegen. Zwei, die hier gar nicht gemeldet sind. Aber so geht das ja nicht! Na denen hab ich vielleicht Zunder gegeben. Man muss überall seine Augen haben, denn hier darf sich nur aufhalten, wer auch hier gemeldet ist. Wir können das ganz leicht überprüfen, weil ja Tag und Nacht jemand hier ist und aufpasst, dass das nicht Formen annimmt, wie in so manch anderen Heimen, wo dann zwanzig Leute mit einem Mal in einem Vierbettzimmer hausen, und keiner verschafft sich einen Überblick. Die verbrauchen ja alle Warmwasser und Strom und alles. Na bedenken Sie mal!“, sagt er und zieht die Hose am Gürtel höher über den Bauch. „Ja, ja, das ist ein schlimmes Volk da unten“, murmelt er mit fast abfälligem Unterton, „aber nun werden sie ja nach und nach zurückgeschickt. Nach Bosnien sowieso, aber auch nach dem Kosovo. Ich sag ihnen, das ist noch lange nicht zu Ende da unten. Die sind ja wie verrückt, so wie die sich gegenseitig abschlachten. Woher kommt nur dieser ganze Hass? Mal geht es so rum und dann wieder so rum. Jetzt sind die Albaner dran. Aber dass die nun auf unsere Bundeswehr schießen, die Albaner, nach allem, was wir für sie getan haben ... Ich dachte ja, sie haben wenigstens vor uns Deutschen ein wenig Respekt, aber das war wohl ein Irrtum. Die sind derart fanatisch, die Burschen, denen ist es sogar egal, wenn's mal plötzlich kein Geld mehr gibt. Wir haben hier auch welche von der UÇK, die sind mit die Schlimmsten, muss ich sagen. Schieben so allerhand hin und her, sammeln dauernd Geld und alles, die denken wohl, wir wissen nicht, was los ist! Die sind noch schlimmer, in meinen Augen, als die Türken ... eh, die Kurden, viel gefährlicher! Aber sonst, die meisten hier, muss ich sagen, sind ganz zivilisiert und vernünftig. Sie palavern den ganzen Tag friedlich mit ihren Landsleuten rum und warten, dass die Zeit vergeht. Viel haben sie ja nicht an Abwechslung, hier in unserem Land, dazu fehlt schon mal das Geld. So bleiben viele hier. Der Milovan übrigens ...“, er schaut auf die Uhr, „sehn Sie, ich hatte recht, ich glaube nicht, dass er noch kommt, aber man soll nie NIE sagen ... Also der Milovan, der geht viel weg. Komisch, eigentlich, wo geht er denn immerzu hin? Na, egal, meist geht er früh weg und kommt abends zurück – wie von der Arbeit ... aber wenn der ... dann hätte er ja auch Geld? Nee! Dass er jedenfalls immerzu weg is, das macht es auch für die Heimleitung so schwer, ihn zu erwischen. Irgendwas braucht man immer mal von ihm, ne Unterschrift oder jetzt den Ü-Schein. Er ist einfach nicht da, und wenn er dann da ist, behilft er sich mit Ausreden. Nur, damit können wir uns ja nicht zufrieden geben, nicht? Es ist nun mal bares Geld, um das es hier geht. Wer nicht bezahlt, fliegt raus. Das ist überall so im Leben. Wenn er's bis Dienstag Abend nicht bringt, ist Dienstag Abend hier für ihn Schluss. Das ist dann nicht mehr unsere Sache, ob der sich in der Nacht auf eine Parkbank oder unter eine Brücke legt. Hier geht's knallhart nach dem Mietrecht. Wer zahlt, kann bleiben, ansonsten wird geräumt. Wenn nötig von der Heimleitung persönlich, oder, wenn's Probleme gibt, dann wird die Polizei geholt und raus!“ Das alles bringt der Mann ohne jede Genugtuung hervor, ohne gröbere Steigerung des Tonfalles, vielmehr rekapituliert er das für Milovan zu Erwartende. Lediglich klingt ein wenig Stolz mit, wenn er vom „Wir“ spricht, dessen Interessen hier gewahrt werden müssen. Für den Betroffenen sind die Nuancen nicht unwichtig.
Ich versteh den nicht, warum er sich's immer so schwer macht. Und auch uns, denken Sie mal, allein der ganze Schriftkram, der nu wieder anfällt, nur weil ein Schein fehlt!“ Draußen geht ein junger Schwarzer vorbei. Der Pförtner und Hausmeister sagt stolz: „Nen kleinen Afrikaner ham wir auch! Bei uns ist alles vertreten, alles durcheinander, nicht mehr so, wie früher, aber immer noch. Nur eben jetzt aus den zusammengebrochenen kommunistischen Ländern, will ich mal sagen. Afrikaner und Tamilen haben wir kaum noch, auch rumänische Zigeuner sind insgesamt stark zurückgegangen. Aber vielleicht kommen jetzt bald wieder welche, aus dem Kosovo. Man weiß es nicht.“ Er tritt plötzlich behende zur Tür und ruft schneidend: „He!“. Der Angesprochene geht, ohne sich umzudrehen, Richtung Tor. Im Hausmeister kommt nun doch Erregung auf. Eine jähe Röte schießt ihm ins Gesicht, er holt kurz Luft und stößt einen gellenden Doppelpfiff aus. Der Mann dreht sich kurz um und beschleunigt dann seine Schritte, während der Hausmeister und Pförtner die Faust ballt und ihm hinterher brüllt: „Lauf nur, Freundchen! Ihr kriegt das Kreuze noch mal voll, das garantier ich. Ihr habt übernachtet hier, zwei Mann von euch. JAJAJAJAJA! Mir macht ihr nichts vor ...“ Aber der Mann ist schon außer Rufweite, und der Hausmeister tritt, um Haltung ringend, wieder hinter seinen Schreibtisch. „Na, nu rennt er. Nimmt die Beine in die Hand. Die wissen genau, was los ist, die Halunken. Hamse gesehen, wie der geguckt hat? Wahrscheinlich guckt er noch, versteckt hinter einem Busch!“ Ich habe aber nicht den Eindruck, dass wer geguckt hat oder gar immer noch guckt, schweige aber. „Jaa, so geht das den ganzen Tag und die halbe Nacht. Wenn da keiner für Ordnung sorgt, bricht hier in Kürze doch alles zusammen im Chaos.“
Ein Mann, dessen kurze Hose einen kräftigen Uringeruch verströmt, tritt in eingespielt ehrerbietiger Haltung näher, klopft an den Türrahmen und sagt auf Sächsisch: „Schönen guten Tag auch, ich wollte nachher mal auf die Sechs und mir ne Jacke rausholen und ein paar Hosen ...“ Der Hausmeister und Pförtner stemmt die Hände in die Hüften und antwortet: „Seh ich doch gar nicht ein, ich hab nachher Mittagspause. Steht doch alles draußen dranne. Entweder jetzt gleich, oder dann nach 17 Uhr erst wieder.“ Der Sachse geht brummelnd ab. Der Hausmeister hat nach dem vorangegangenen Autoritätseinbruch diesen Auftritt sichtlich genossen. Es herrscht wieder eine Respektsperson in der kleinen Schaltzentrale, die Ansuchenden wissen sich zu benehmen, sein Bescheid ist unumstößlich. Dass die Kandidaten in bepinkelten Hosen Haltung annehmen, scheint unbedeutend. In verändertem Tonfall und stärkerem Hochdeutsch fährt er fort: Na, die Illegalen, die kosten ja Geld, sie verbrauchen alles doppelt und dreifach. Das muss man eindämmen, denn grade die Illegalen sind es, die Berlin Millionen und Abermillionen gekostet haben. Erst das Sozialamt, wo sie mit gefälschten Doppelpapieren das Fünf- bis Sechsfache erschwindelt haben, und dann auch noch für Abschiebehaft und Rückführung. Die Leute haben abwechselnd in den verschiedenen Heimen übernachtet, unter fünf, sechs verschiedenen Namen und dort auch noch die Leistungen bezogen. Jetzt seit die einzelnen Stellen und Computer besser zusammenarbeiten, ist das alles etwas zurückgegangen, aber es gibt immer noch genug Halunken, die sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen.
Ja, ja, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ...“ Er streicht bedächtig imaginäre Staubkörner von der Tischplatte und fährt fort: „ Ich meine, ich hab ja nichts gegen diesen Glauben, aber in meinen Augen sind das Mörder, richtige Mörder ...“ Er bemerkt unsere Irritation, fängt sich einen Moment und fährt dann in einem Anfall von loderndem Hass fort: „Die Islamisten meine ich, das sind die Schlimmsten. Jetzt in Tschetschenien auch schon wieder, nur als Beispiel. Die haben nichts zu verlieren, im Gegenteil, sie morden für Allah und kommen dafür sofort in den Himmel. Für ihren Glauben tun die alles, lassen jeden über die Klinge springen, der da nicht reinpasst. Man sieht es ja auch hier, die meisten von den fanatischen Albanern sind Moslems und haben zu Hause riesige Familien sitzen. Gut, die Serben sind teilweise vielleicht auch fanatisch, aber nicht so, man merkt, sie haben irgendwie christliche Wurzeln. Ich muss sagen, am besten komme ich eigentlich mit den Serben aus. So ist es ja auch mit Milovan, er ist an sich ein lieber Kerl, die Serben sind eben etwas verrückt, aber sie sind offenherzig und freundlich, und wenn man was sagt, dann reagieren sie wenigstens, wenn sie dann auch nicht immer das machen, was man von ihnen will. Aber die andern, die machen nur Ärger. Die sind verschlagen und frech, die verachten uns richtiggehend. Das ist eine ganz andere Sorte von Menschen, und die Albaner sowieso! Und ich will Ihnen noch was sagen, auch als wir diese ganzen Zigeuner da hatten, mit Kind und Kegel und allem, da gab's Läuse und da wurde alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Aber sie werden's mir vielleicht nicht glauben, trotzdem waren das meistenteils ganz freundliche, nette Menschen, die kennen das eben nicht anders und sie sind bitter arm. Das muss man alles mal von innen gesehen haben, bevor man sich ein Urteil bilden kann! Nee, ich bin sogar mit denen ausgekommen, bis auf diese schreckliche Unart, dass sie immer hinten über den Zaun gestiegen sind abends, denn es ist bei uns so, ab 22 Uhr herrscht Heimverbot, das heißt, da dürfen nur noch unsre Leute drin sein. Na und die hatten ja massenhaft Anhang, die kamen alle über den Zaun, bis er ganz flach auf dem Boden lag. Aber sonst ging's gut mit denen. Alles nichts gegen die Albaner, die Kosovo-Albaner, das ist ne ganz andere Mentalität eben – die Zigeuner, das sind ja auch Christen, irgendwie – aber die, nee! Hinterlistig, hinterhältig, eiskalt. Mit Moral können sie denen nicht kommen, bei denen wird's immer gleich kriminell. Wo die einen heimlich mit raufgehen und in den Zimmern schlafen, da hat der Albaner sich schon einen Nachschlüssel machen lassen, kocht, duscht und geht frech ein und aus. Deshalb hab ich ja vorhin dem einen so gedroht, damit er nicht denkt, er kann hier machen, was er will. Ehe nämlich nicht welche gewaltsam rausfliegen, geben die keine Ruhe. Sie haben keinerlei Angst und legen es geradezu darauf an. In die Albaner, da kriegen wir einfach keine Disziplin rein. Niemals! Ich bin froh, wenn die bald wieder weg sind.“
Ein magerer älterer Mann, umschlottert von Jeans und T-Shirt, mit dem Dauertremor des langjährigen Alkoholikers behaftet, betritt den Flur und nähert sich unsicher der offenen Tür. Nach verlegenem Räuspern sagt er mit überraschend fester Stimme: „Ich hätte da mal ne Frage. Tschuldigung, dass ich stören muss, aber wo kann man denn hier ein Messer kriegen?“ Der Pförtner und Hausmeister schweigt lange, als müsse er sich die Antwort reiflich überlegen, kratzt sich mit dem Nagel des kleinen Fingers am Kinn und fragt dann prüfend: „Ihnen ist doch ausgehändigt worden ein vollständiges Besteck, ja oder nein?“ „Ja!“, sagt der Mann bestimmt, „ aber kein Messer!“ Der Türhüter runzelt die Brauen: „Ein vollständiges Besteck ohne Messer gibt es nicht!“ „Ich habe an Besteck bekommen, zwei Löffel und Gabel, sonst nichts“, entgegnet der Bittsteller ruhig. Doch gerade diese Ruhe scheint es zu sein, die den Hausmeister in Rage bringt: „Das kaufe ich Ihnen nicht ab, guter Mann, kein Messer bekommen! Das Messer ist ja gerade die Hauptsache vom Besteck, so was fällt doch auf, wenn's nicht dabei ist!?“ „Nee, war nicht mit bei“, sagt der Mann und lehnt sich mit der Schulter gegen den Türrahmen, was der Hausmeister mit einem huschenden Seitenblick sofort registriert und durch einen Bescheid quittiert. „Ich sage Ihnen folgendes: Sie müssen in jedem Fall warten bis Montag. Ich werde Ihnen nichts ausgeben. Diesen Fall muss die Heimleitung entscheiden, schon deshalb, weil im Büro die Protokolle liegen, und die haben wir ja genau aus diesen Gründen da, aus denen wird nämlich ersichtlich, was Sie ausgehändigt bekommen haben, und das haben Sie ja auch bestätigt mit ihrer Unterschrift.“
Der Mann gibt sich noch nicht zufrieden: „Normalerweise gehört zu einem Besteck ja auch ein Messer!“ „Normalerweise bekommt auch jeder ein Messer!“, entgegnet der Hausmeister gereizt. „Ich hab nichts gekriegt!“, beharrt der Mann mit dem unerbittlichen Eigensinn eines Trinkers. Dem Hausmeister platzt nun der Kragen, er hebt beide Arme zum Himmel und ruft aus: „Und das fällt Ihnen nun ausgerechnet am Sonntag, kurz vor Mittag ein, ja? Das können Sie mir doch nicht erzählen!“ Der kleine Ausbruch hat immerhin zur Folge, dass der Mann nun wieder frei und leicht schwankend in der Türöffnung steht, ohne jedoch das Feld räumen zu wollen: „Das ist ganz einfach“, erklärt er geduldig, „weil ich mir grade mal Bouletten kochen wollte, zur Feier des Tages mit Mostrich und so, da fiel's mir auf. Ick wollte mal menschlich essen!“ Der Hausmeister fragt nach einem kurzen Moment der Verwirrung in fast sanftem Tonfall: „Ja sagen Sie mal, Mann, Sie sind doch nun schon ne ganze Weile hier, womit haben Sie denn die ganze Zeit geschmiert?“ „Na mit dem Löffelstiel!“, sagt der Trinker. „Und womit haben Sie geschnitten?“, fragt der Hausmeister, der Verzweiflung nahe. „Ick hatte ja kein Geld, da gibt's auch nichts zu schneiden!“, erklärt der arme Mann. Dem Hausmeister entschlüpft ein „Ach so“ und der Mann sagt: „Und heute hab ich Fleisch auf dem Teller, nach Wochen mal wieder, und heute brauch ich ein Messer!“ Doch der Hausmeister hat sich auf dieser Achterbahn längst wieder zurechtgefunden und verkündet teilnahmslos in abschließendem Amtston: „Nix zu machen. Vorschrift ist Vorschrift! Montag Morgen bei der Heimleitung einfinden, der tragen Sie ihr Problem vor, die hat die ganzen Protokolle da und wird sich um die Sache kümmern.“ „Gut, danke“, sagt der Abgewiesene förmlich und geht.
Als er außer Sichtweite ist, tippt sich der Hausmeister an die Stirn und rollt mit den Augen. „Der kann mir doch nicht erzählen, dass er die ganze Zeit sein Brot mit dem Löffelstiel ... Das hat er verbummelt sein Messer, und dann isst er eben mit den Fingern und denkt, es wird schon mal ein günstiger Moment kommen, wo er sich ein neues ausgeben lassen kann. Und ich bin dann der Dumme, muss für den Bestand ja gradestehen. Jeder muss eben auf seine Sachen achten, sonst sind sie weg. Wir haben ja hier Selbstverpflegung, deshalb wird jedem Neuzugang Besteck und alles ausgehändigt, gegen Unterschrift, und das ist doch klar, dass da alles vollzählig und vorschriftsmäßig enthalten ist. Danach ist jeder selbst verantwortlich für sein Essen und für sein Besteck.“ Er späht angestrengt durchs Fenster: „Sie, ich glaube da kommt er, der Milovan.“ Er eilt zur Tür und ruft ein Grüppchen junger Männer herbei, die am Tor stehen. Milovan ist jedoch nicht dabei. „War nichts“, sagt der Pförtner und lässt sich aufseufzend auf den Stuhl fallen.
Wir machen Anstalten, uns zu verabschieden, doch er rät, noch denn nächsten Bus abzuwarten: „Mit denen ist er nämlich sonst oft zusammen. Na wissen Sie, ich hoffe ja, dass er seinen Ü-Schein Dienstag beibringt – Strenge muss ja leider sein – und grade mit dem Milovan, da haben wir, schon so lange wie er hier ist, immer Ärger mit Papieren und Unterschriften. Mal fehlt hier was, mal da, und um drei vier Tage wird alles verschoben, dann kommt er wieder und lacht einem so jungenhaft an. Dann hat er's doch noch geschaft im letzten Moment und man kann ihm einfach nicht böse sein. Die kennen das auch nicht so von zu Hause, mit den Papieren und der Pünktlichkeit, aber Ordnung muss nun mal sein. Na, der hat's nicht leicht, das wissen wir ja, so jung und in der Fremde, ohne Familie und ohne Erwerbsleben, das verdirbt einen Mann, der eigentlich längst eine Familie gründen müsste. Hier hängen die ja alle nur rum und schlagen die Zeit tot. Manche kommen auf dumme Gedanken, aber der Milovan ist sauber! Trotzdem, wenn er nicht spurt, muss er in den sauren Apfel beißen. Vielleicht lernt er draus. Aber selbst wenn er rausfliegt, kann er, sobald er den Schein hat, wiederkommen. Nur kann sein, dass dann sein Zimmer schon wieder vergeben ist, dann muss er in ein anderes. Das ist ja alles nicht schön, aber irgendwo muss mal ein Strich gezogen werden, denn ich meine, wir wollen ja unser Gehalt auch haben, es muss ja alles bezahlt werden in Heller und Pfennig auf dieser Welt ...“ Er brüllt ein freundlichese „Hallo“ hinaus zu einer Gruppe von zwei Männern und einer Frau. Man winkt ihm ein wenig übertrieben zu, will mir scheinen, und entfernt sich langsam. Der Pförtner sagt aufgeräumt: „Schlesier auf Wanderschaft, wie üblich! Das sind unsere Spätaussiedler aus Polen, so was gibt's auch noch. Die haben deutsche Pässe, also das sind deutschstämmige Polen sozusagen, oder in Polen geborene Deutsche, kann man auch sagen, die Eltern und Großeltern waren Deutsche, und die sind damals geblieben. So kam das. Aber nun wollten sie doch weg. Das Paar ist vor einem Jahr gekommen, und der Grischa ist seit drei Jahren hier. Mit denen gibt es überhaupt keine Probleme, das sind saubere und ordentliche Leute, denen man es direkt anmerkt, obwohl sie doch ...“
Wir verabschieden uns und schlendern hinter den Schlesiern zum Tor hinaus. An der Haltestelle hockt der mit den kurzen Hosen und sucht die Zigarettenkippen zusammen vom Boden.
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