■ Italien: Der zweite Freispruch für Andreotti und die Folgen
: Aus Mangel an Beweisen

Die Wahrheit, das hat schon Henrik Ibsen in der „Wildente“ unübertrefflich dargestellt, ist mit der Wirklichkeit oft nicht kompatibel. Spricht man sie aus, kann sie geradezu desaströse Folgen zeitigen, die mit jener Wahrheit selbst eigentlich nichts zu tun haben.

Im Prozess gegen den siebenmaligen Ministerpräsidenten Italiens, Giulio Andreotti, ist ein Freispruch ergangen: aus Mangel an Beweisen. Mithin also unter Anwendung des juristischen Leitsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“. Es gibt keinen Grund zu vermuten, dass dieses Urteil auf trüben, nicht rechtsstaatlichen Wegen zustande kam. Der Gerichtspräsident Francesco Ingargiola war schließlich der erste Richter, der sich getraute, den obersten aller Bosse, Luciano Liggio, lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Und der Kumpaneien zwischen Mafiosi und Geheimdienstlern mit strengen Strafen ahndete, ohne Ansehen der Person. Insofern ist das Urteil ohne Wenn und Aber zu akzeptieren.

Und dennoch: Das Urteil wird desaströse Folgen für Italiens Demokratie und für die Freiheit der Bürger haben – und das ist keine Übertreibung. Ohne nennenswerten Widerstand werden nun all jene Gesetze, die Prozesse auch gegen die Angehörigen des Machtkartells ermöglicht haben, einkassiert – von den Kronzeugenregelungen bis zur Möglichkeit, Verstöße gegen das Parteienfinanzierungsgesetz auch mit Paragrafen wie dem der Erpressung (wenn Schmiergeld verlangt wurde und der Betreffende bei Nichtzahlung vor dem Aus stehen würde) oder der Hehlerei (wenn nichtdeklarierte Einnahmen gewaschen wurden) zu verfolgen. In einem einzigen Aufwasch wird bereinigt, was sich seit Anfang der 90er auf Druck des immer wütenderen Volkes durchgesetzt hatte: die Abschaffung der Immunität für die Personen an den Schalthebeln der Macht. Dass Andreotti freigesprochen wird, verwechseln die Politiker nun mit einer Absolution auch aller anderen aus ihren Reihen, die noch vor Gericht stehen oder bereits abgeurteilt wurden. Und dieses Verhalten zeigt sich bei Rechten wie Linken.

Ideologisch ist die Wiederinstallierung der Straflosigkeit für Mächtige bereits erfolgt. Kaum jemanden kümmert es heute noch, wenn Strafverfolger Verfahren gegen Leute wie Berlusconi einleiten. Die Resignation regiert: Am Ende kommen die Großkopferten doch wieder alle frei.

Für Palermo zeichnet sich mit diesem Urteil die Rückkehr der Angst ab. Während der großen Prozesse gegen ihre Bosse gab es stets die „Pax mafiosa“, eine Art Waffenstillstand zwischen den Clans, um die Gerichte und die Zentralregierung in Rom nicht zu reizen. Während des Andreotti-Prozesses gab es faktisch keinen spektakulären Mafia-Mord. Doch nun gibt es keinen Grund mehr stillzuhalten. Nun kehrt die Furcht wieder, dass die Freiheiten der Bürger wieder auf die Gesetze der Mafia reduziert werden.

Werner Raith