Freispruch zweiter Klasse für Andreotti

Das Gericht sieht die Unterstützung der Mafia nicht als erwiesen an. Die alten Christdemokraten jubeln, Ermittler und Ankläger geben sich betreten. Doch noch steht die Urteilsbegründung aus  ■    Aus Palermo Werner Raith

Italien ist sich nahezu überall einig, im Norden wie im Süden: Er hat seinen Kopf wieder einmal herausgezogen, aus der doch schon recht fest geknüpften Schlinge. 70:30 für eine Verurteilung standen die Wetten am Samstagmorgen zwei Stunden vor der Verkündung des Urteils gegen den siebenmaligen Ministerpräsidenten Italiens, den 80-jährigen Giulio Andreotti. Tags zuvor waren es noch 50:50 gewesen. Doch dann verlas der Vorsitzende Richter Francesco Ingargiola den Freispruch, und zunächst ging im Trubel unter, dass der Kammervorsitzende die Absolution auf den Artikel 530, Absatz 2 bezog. Das ist der berühmte Freispruch „zweiter Klasse“, nämlich nicht – wie vor vier Wochen in Perugia beim Prozess wegen Anstiftung zum Mord – wegen erwiesener Unschuld, sondern nur wegen Mangels an Beweisen. Zwar mühten sich Andreottis Getreue und ehemalige Kampfgefährten, den Freispruch als „volle Rehabilitation“ zu deuten. Doch erst die schriftliche Urteilsbegründung – in Italien gibt es keine mündliche – wird sichtbar machen, wie nahe oder wie ferne Andreotti wirklich einer Verurteilung wegen Bildung einer mafiosen Vereinigung stand. Und ob der Makel der Verbindung zu den düstersten Gestalten Siziliens nicht doch auf ewig an dem unverwüstlich scheinenden Stehaufmännchen hängen bleiben wird.

So mancher alte Kämpe der 1994 aufgelösten Democrazia cristiana gerät ob der Sentenz schon wieder ins Träumen: 50 Jahre christdemokratischer Herrschaft habe die politisch einäugige, linksorientierte Justizmaschinerie mit dem Andreotti-Prozess zu diskriminieren versucht, tönt der Vorsitzender der Zweiprozentpartei CCD, Pierferdinando Casini, „nun ist die alte DC wieder voll rehabilitiert“. Selbst besonnene Politiker wie der neue Vorsitzende der Volkspartei, Castagneti, möchte sich anfangen einzusammeln, was sich an alten DClern auf ein halbes Dutzend Parteien verteilt hat. Und auch ein anderes DC-Urgestein meldete sich wieder zu Wort, der ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga: Er wünscht gleich mal die Ausschaltung jener Staatsanwälte, die den Andreotti-Prozess geführt haben, insbesondere ihres langjährigen Chefs Giancarlo Caselli, der mittlerweile zum Oberaufseher der Gefängnisse Italiens berufen wurde: „Wenn er einen Funken Ehre hat, tritt er zurück.“

Silvio Berlusconi, Führer der Rechtsopposition, sucht mit dem Andreotti-Urteil, wie erwartet, den Frontalangriff auf die gesamte Justiz, die ihn selbst heftig beim Wickel hat: Zumindest „die kranken Teile“ der Rechtsprechung, so der Medienzar, sollten „umgehend entfernt werden“. Weniger erfreut ist er allerdings über die möglichen politischen Folgen des Freispruchs. Gelingt den alten DC-Granden die Wiedererweckung ihrer Democrazia cristiana, erleidet seine Partei, die sich seit Jahren als „natürliche“ Erbin zumindest des konservativen Flügels der DC gibt, heftige Einbußen.

Betretenheit dagegen bei der Linken: Sie erweckt den Eindruck schlechten Gewissens; niemand traut sich darauf hinzuweisen, dass die Indizien gegen Andreotti keineswegs dünn waren. Gleich mehrere Kronzeugen hatten von direkten, persönlichen Treffen des Politikers mit Mafia-Größen, einige davon damals sogar steckbrieflich gesucht, berichtet. Andreotti, der anfangs strikt jede Begegnung mit Mafiosi geleugnet hatte, musste auf Grund von Fotos oder Filmaufnahmen immer wieder einräumen, doch mal mit diesem oder jenem Boss zusammengewesen sein. Seine Verteidigungslinie war wenig überzeugend: mal wollte er einen Mafioso fälschlich nur für den Direktor des Veranstaltungshotels gehalten haben, mal suchte er Fahrten zu untergetauchten Bossen mit dem Argument zu widerlegen, dass er doch rund um die Uhr von Eskortebeamten umgeben war – und wurde dann dabei ertappt, wie er einige merkwürde „Fehlzeiten“ durch Manipulation der damaligen Eskortenberichte zu „bereinigen“ suchte.

Gian Carlo Caselli, der vormalige Chefankläger, und seine beiden engsten Mitarbeiter Lo Forte und Scarpinelli, geben sich denn auch ganz und gar nicht kleinlaut: Sie hätten ihre Pflicht getan und Andreotti vor Gericht gebracht, wie man das bei jedem anderen so schwerer Verbrechen angeschuldigten Bürger getan hätte. Man werde die innerhalb von 90 Tagen fällige schriftliche Urteilsbegründung studieren und danach sehen, wie man „pflichtgemäß weitergehen“ werde. Gut möglich, dass Andreotti das Schlimmste doch noch nicht hinter sich hat.