Zombiezuchtfarm Eigenheim

Sechs Stücke, 15 Inszenierungen, 30 Jahre alt: Falk Richter ist produktiv und besser, als seine Inszenierung von Oscar van Woensels „Wer“ in Hamburg es zeigt  ■   Von Christiane Kühl

Sein erstes Wort war „daußen“. Nicht Mama, nicht Papa, sondern „daußen“. Das mit dem „r“ hat das jüngste von fünf Geschwistern damals noch nicht hingekriegt, aber heute ist er sichtbar stolz darauf, schon als Baby gewusst zu haben, dass er da raus muss. Aus dieser Zombiezuchtfarm, die Familie heißt.

Genützt hat ihm das Wissen nichts. Er ist nicht losgekommen, auch nicht, als er das schicke Elternhaus in der Westholsteinischen Schweiz verließ. Keiner von ihnen hat es geschafft. Die Familie ist ein Krebs, an dem sie alle krepieren werden. Vermutlich sind sie das schon. Glaubt man den Figuren auf der Bühne, ist Familie das System, das Geborenwerden verhindert. Da wundert es nicht, dass der Bruder, der am Abend vor der Beerdigung der Eltern den Cognac einschenkt, die anderen mit „Ich bin froh, euch zu sehen. Und dass Vater tot ist“ begrüßt. Vater war das Monster. Wer bist du?

„Wer“ hat der holländische Schauspieler und Autor Oscar van Woensel für und mit seiner Amsterdamer Gruppe „Totes Pferd“ verfasst. Schreiben, lesen, probieren, umschreiben lautet der Rhythmus der Truppe, die stets ohne Regisseur und hierarchiefrei arbeitet – ganz so, als wolle sie restlos alle Vaterfiguren aus ihrem Schaffen verbannen. Das Ergebnis dieses stadttheaterfernen Arbeitens hat den Hamburger Regisseur Falk Richter beeindruckt, vor allem das Verhältnis der Figuren untereinander, „diese radikale Nichtkommunikation“. Richter, der von Stücken etwas versteht, da er selber bereits sechs geschrieben, inszeniert und erfolgreich beim S. Fischer Verlag publiziert hat, übersetzte das Drama und richtete die deutsche Erstaufführung am Malersaal des Deutschen Schauspielhauses ein. Premiere war am Samstag, seinem 30. Geburtstag. Und wenn der freundliche, selbstbewusste junge Mann in den kommenden sechs Jahren so produktiv und erfolgreich ist wie in den vergangenen, wird sein Name in der deutschen Theaterlandschaft groß geschrieben werden.

Falk Richter studierte Regie am Institut für Theater, Musiktheater und Film der Universtät Hamburg. Nach zwei bemerkenswerten Aufführungen eigener Texte wurde seine Inszenierung von Geradjan Rijnders „Silikon“ auf Kampnagel 1996 zu einem lokalen Hit, der ihm eine Einladung zum Internationalen Theaterfestival in Amsterdam bescherte und noch im selben Jahr zwei weitere Produktionen nach sich zog: „Alles. In einer Nacht“, ein relativ dämlicher Soloabend mit Marie Bäumer an den Hamburger Kammerspielen, und „Kult. Geschichten für eine virtuelle Generation“ am Düsseldorfer Schauspielhaus. 1997 zeigte er eine Pinter-Inszenierung, die mit einer Nominierung zum „besten Nachwuchskünstler“ in Theater heute belohnt wurde, sowie die europäische Erstaufführung von Martin Crimps „Angriffe auf Anne“, das er für den Rowohlt Verlag auch übersetzte. Crimp inszenierte er in Amsterdam, Brecht und Goethe in Atlanta, eine Sophokles-Bearbeitung in Linz.

Dieses Jahr folgten „Nothing hurts“, eine grandiose Zusammenarbeit mit der Choreografin Anouk van Dijk über den Schmerz als Daseinsbeweis, und die Uraufführung von Richters scharf am Zeitgeist schnippelndem Stück „Gott ist ein DJ“ in Mainz. Die Geschichte vom Yuppie-Pärchen, das den „Soundtrack zu unserem Leben“ finden, vor allem aber vermarkten will und dabei mit seiner ganz auf Medienhype ausgerichteten Selbstinszenierung dieselbe in Phrasen zersägt, wird bereits an diversen Theatern nachgespielt. Richter selbst zeigte derweil Mark Ravenhills „Handbag“ in Göttingen und ließ sich von Christoph Marthaler, dem künftigen Intendanten des Schauspiel Zürichs, als Hausregisseur verpflichten. Nicht schlecht für einen, der noch vergangene Woche Twen war.

Das Sein und besonders das Jungsein ist immer wieder Thema in Richters Stücken und Inszenierungen. Anders als die gängigen Erfolgsbriten setzt er dabei weniger auf die schwierige Existenz in einem Umfeld, dem der Spaß mit Gewalt abgepresst werden muss, als auf das Konstruieren von Identitäten. Das Sich-selbst-Erfinden und der Wunsch nach einer eindeutigen Haltung gegenüber einer diffusen Welt ist auch Thema in van Woensels „Wer“. Jeder der namenlosen Geschwister versucht mit immensem emotionalen Aufwand, von sich ein Bild als integerer Gestalt zu zeichnen, und sei es auch nur als einer integer gescheiterten. Dann hyperventilieren sie in Katrin Hoffmanns beeindruckend mehrschichtigem Raum des kühlen Wohnterrors, doch ihre Anstrengungen können nicht überzeugen. Jene Schwester, die von ihren Kindern und dem erfüllten Leben in Österreich berichtet (Bettina Engelhardt), besteht an anderer Stelle auf ihre Unfruchtbarkeit; die andere, die sich als wichtiges Inventar öffentlich-rechtlicher Vorabendserien ausgibt (Judith Engel), kollabiert und rekapituliert Szenen aus der Klapse. Auch die Brüder (Martin Horn, Sebastian Rudolph, Oliver Mallison) springen zwischen der Behauptung gelungener Abnabelung und ewiger psychischer Versklavung durch den monströsen Vater.

In den kurzen Momenten, in denen der Zuschauer irritiert den Realitätsgehalt dieser Identitätsversionen auszumachen sucht, funktioniert das Stück. Die längste Zeit ist man jedoch durch das neurotische Gebrüll davon überzeugt, dass alles zitierte Böse wirklich stattgefunden haben müsse. Und fragt sich, wie ein Autor es ernsthaft wagen konnte, Kindesmissbrauch, geschwisterlichen Inzest, Homophilie, Schizophrenie, Nekrophilie, Abtreibung und einen Junkie in dasselbe Stück zu zwängen. Die Problemlast erinnert an Jugendtheater der Achtziger und wird mit der dramatischen Ernsthaftigkeit des psychologischen Theaters der Siebziger auf die Bühne gebracht. Aua. Ein bisschen mehr Spiel mit dem Spiel wäre angebracht gewesen. Schließlich ist auch eine Emanzipation von den Theatervätern nötig.