Der Wende voraus

■ Ungarns Ex-Ministerpräsident Andras Hegedüs, der 1956 die Sowjets rief, ist tot

Berlin (taz) – Die Reue kam spät, aber sie kam. Er schäme sich seiner Rolle während des Ungarnaufstandes 1956 und trage die Mitverantwortung dafür, dass der ungarischen Nation ein fremdes Regime aufgezwungen wurde, bekannte Ungarns ehemaliger Ministerpräsident Andras Hegedüs in Gesprächen mit einem exilierten Landsmann Mitte der 80er-Jahre. Am vergangenen Samstag starb der zum Systemkritiker mutierte Altkommunist im Alter von 76 Jahren in Budapest.

Hegedüs wurde 1922 geboren und wuchs in einer Bauernfamilie in Szilsarkany, rund 120 Kilometer westlich von Budapest, auf. Schon als Jugendlicher trat er 1942 der Kommunistischen Partei im Untergrund bei. 1953 wurde er Landwirtschaftsminister. Als Imre Nagy Anfang April 1955 wegen „Rechtsabweichung“ gestürzt wurde, übernahm Hegedüs das Amt des Regierungschefs. Im gleichen Jahr setzte er seine Unterschrift unter den Beitritt Ungarns zum Warschauer Pakt.

In der Folgezeit blieb Hegedüs' Politik unentschlossen und lavierte zwischen gemäßigteren Kräften und Stalinisten, wobei es Letzteren gelang, einen Keil in das Lager ihrer Kontrahenten zu treiben. Als sich im Oktober 1956 Proteste zu einem Volksaufstand auswuchsen, richtete Hegedüs ein formelles Hilfeersuchen an die Sowjetunion auf Intervention, trat kurz darauf zurück und flüchtete in die Sowjetunion. Nachdem sowjetische Truppen den Volksaufstand niedergeschlagen hatten, wurde Hegedüs als mitverantwortlich für die blutigen Ereignisse bezeichnet und von der neuen Parteiführung aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kehrte Hegedüs nach Ungarn und in die Partei zurück, war jedoch kaum noch politisch aktiv. Der Soziologe arbeitete in Behörden und Wissenschaftseinrichtungen und veröffentlichte Bücher und Artikel. Im Januar 1964 wurde er Chefredakteur der Monatsschrift Valosag, die für offene soziologische Untersuchungen und soziale Reformen eintrat. 1965 wurde Hegedüs als Chefredakteur abgelöst. 1973 protestierte er in einem Brief an das Zentralkomitee gegen die Politik der Sowjetunion und wurde erneut aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.

Danach beschäftigte sich Hegedüs nur noch mit der Herausgabe von Aufsätzen, von denen einige, wie „Sozialismus und Bürokratie“ aus dem Jahre 1981, auch in Deutsch vorliegen. Am vergangenen Samstag, Hegedüs' Todestag, gedachten die Ungarn des 43. Jahrestages der sowjetischen Intervention und des zehnten Jahrestages der Wende. Regierung und Opposition marschierten getrennt.

Barbara Oertel