Die offene Wunde der jungen Republik Armenien

■ Der ungelöste Konflikt um die armenische Enklave Nagorny-Karabach in Aserbaidschan verhindert jede wirtschaftliche Entwicklung des seit 1991 selbstständigen Staates

Heute sind Armenien und Karabach stärker denn je. Doch wenn der Konflikt um Karabach nicht in einem oder zwei Jahren beigelegt ist, werden wir dies mit einer beträchtlichen Schwächung bezahlen müssen. Aserbaidschan, Armenien und Karabach werden ebenso Kompromisse eingehen müssen, wie es die Beteiligten am bosnischen oder auch israelisch-palästinensichen Konflikt getan haben.“ Als der damalige armenische Präsident Levon Ter Petrosjan im November 1997 diese Sätze formulierte, wollte ein großer Teil seiner Landsleute ihm nicht folgen. In einer verfassungswidrigen Aktion, die einem kalten Staatsstreich gleich kam, wurde er vom eigenen Premierminister und seinem Verteidigungsminister, der den größten Teil der Armee hinter sich wusste, gestürzt. Die Namen der Putschisten: Robert Kotscharjan und Wasgen Sarkisjan.

Spätestens als am Mittwochnachmittag die Killer im Parlament in Eriwan losballerten, muss beiden bewusst gewesen sein, wie recht Ter Petrosjan vor gut zwei Jahren hatte. Der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Kotscharjan und der damalige Verteidigungsminister Sarkisjan, der am Mittwoch als amtierender Ministerpräsident erschossen wurde, wurden Opfer ihrer eigenen Politik. So wie sie damals Petrosjan vorwarfen, Armenien zu verraten, werfen die Attentäter jetzt ihnen vor, das Land in den Abgrund geführt zu haben. Auch wenn die Killer von heute sich auf die Armut im Land berufen, die Ursache für die Kämpfe in Armenien ist letztlich immer dieselbe: Nagorny-Karabach.

Das Gebiet Nagorny-Karabach, für armenische Nationalisten Arzach, wurde in den letzten Jahrhunderten überwiegend von Armeniern besiedelt, von Stalin aber der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen. Als die UdSSR Ende der 80er-Jahre erste Auflösungserscheinungen zeigte, formierte sich in Karabach eine Volksbewegung, die den Anschluss ans Mutterland Armenien forderte und damit einen jahrelangen Krieg zwischen den seit 1991 selbstständigen Staaten Armenien und Aserbaidschan auslöste.

Da Armenien von Russland militärisch unterstützt wurde, gelang es den armenischen und karabachischen Milizen, die aserische Bevölkerung aus der Region zu vertreiben und weitere Gebiete Aserbaidschans zu besetzen. 1994 stimmten die Aseris erschöpft einem Waffenstillstand zu. Seitdem bemüht sich eine Arbeitsgruppe der OSZE, zu der auch Deutschland, die USA und Russland gehören, um einen Kompromiss.

Eine Lösung scheiterte bisher vor allem an der geradezu mystischen Überhöhung, die sich mit „Arzach“ in Armenien verbindet. Was den Serben das Amselfeld, ist den Armeniern Karabach. Jeder Kompromiss unterhalb der Ebene des Anschlusses oder aber der völligen Unabhängigkeit Nagorny-Karabachs scheiterte an den Nationalisten in Karabach und Eriwan. Als Ter Petrosjan im Herbst 1997 einem Vorschlag der OSZE zustimmen wollte, der den stufenweisen Rückzug der Armenier aus den besetzten Gebieten im Austausch für eine Autonomie, die einer De-facto-Unabhängigkeit Karabachs gleich gekommen wäre, wurde er von Kotscharjan und Sarkisjan gestürzt.

Erst einmal selbst an höchster Stelle verantwortlich, kam auch Robert Kotscharjan mit der Zeit nicht mehr an der Erkenntnis vorbei, dass sein Vorgänger Petrosjan im Recht war. So lange der Konflikt um Nagorny-Karabach wie eine offene Wunde der jungen Republik wirkt, hat Armenien keine Chance auf eine wirtschaftliche Entwicklung. Es wird im Osten durch Aserbaidschan und im Westen durch die mit Aserbaidschan verbündete Türkei blockiert.

Doch Armenien bewegt sich, wie andere Länder auch, im Teufelskreis zwischen Armut und ethnisch motiviertem Nationalismus. Seit Kotscharjan sich, wie vor ihm Ter Petrosjan, für Realpolitik entschieden hat und unter Vermittlung der OSZE mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Haidar Alijew verhandelt, ist er in den Augen der Ultranationalisten selbst wieder zum Verräter geworden. Nach Informationen armenischstämmiger Journalisten in Istanbul waren die Präsidenten der beiden Länder auf einem guten Weg, eine Verhandlungslösung für Karabach zu erarbeiten, die vielleicht schon auf dem OSZE-Gipfel am 18. November in Istanbul hätte unterschrieben werden können. Doch in Armenien gibt es offenbar immer noch genug Leute, die bereit sind, einen Kompromiss mit Mord und Totschlag zu verhindern.

Jürgen Gottschlich, Istanbul