In Palermo herrscht wieder die Omertà

Nach dem Freispruch für den Politiker Giulio Andreotti geht in der Stadt wieder die Angst vor der absoluten Herrschaft der Mafia um. Die Hexenjagd auf Staatsanwälte und Antimafia-Politiker hat bereits begonnen  ■   Aus Palermo Werner Raith

Das war ein Tag so richtig nach dem Geschmack Carmelos: „In dreißig Jahren habe ich das nicht erlebt“, sagt der Besitzer einer Pasticceria an der Via Vittorio Emanuele, „man konnte sich freuen, ,Sieg‘ schreien, sich in die Arme fallen und hupend mit dem Auto herumfahren – und machte sich dabei weder in der einen noch der anderen Weise verdächtig.“ Nach dem Freispruch für den siebenmaligen Ministerpräsidenten Andreotti war in Palermo zunächst für einige Sekunden sprachlose Verwirrung eingetreten: zuerst wusste niemand so genau, ob in der Mafia-Stadt nun Freude oder Ärger angesagt war. Doch als aus Paris die Aufhebung der Disqualifikation für das Formel-1-Team von Ferrari kam, konnten alle vor Freude und Genugtuung losjubeln. Weder die allüberall vermuteten Mafiazuträger noch die ebenso intensiv vermuteten Geheimdienstagenten konnten noch unterscheiden, ob sich einer über das Andreotti-Urteil oder über den Ferrari-Erfolg freute.

Dass man in Sachen Andreotti nicht genau wusste, wie man sich verhalten sollte, erklärt ein ehemaliger Eskortenpolizist von Bürgermeister Orlando – des großen Antagonisten Andreottis in der einstigen Democrazia Cristiana – so: „Man weiß ja nicht genau, wer im Andreotti-Prozess nun gewonnen hat. War es die Mafia, die sich wieder einmal gegen die Justiz durchgesetzt hat? Oder waren es Andreotti und die Mafia? Oder war es Andreotti gegen die Mafia?“ Oder, vierte Möglichkeit, die ein Kollege des Beamten einwirft, „war es am Ende wirklich nur ein skrupulöses Gericht, das am Ende eben trotz aller zusammengetragenen Beweise noch einen Hauch von Unsicherheit hatte und daher das juristische Grundprinzip ,In Zweifel für den Angeklagten‘ angewandt und nun ein wahres Erdbeben provoziert hat?“

So unbändig sich die Palermitaner freuen konnten, so stark sind freilich inzwischen die Zweifel wieder. Nur flüsternd und hinter seinem Kiosk am Corso dei mille versteckt gibt Zeitungsverkäufer Bernardo, der ansonsten immer gute Hinweise über Palermos Innenleben zur Hand hat, die Überlegungen der Palermitaner wieder: „Man muss ja zurückdenken bis 1992. Da wurde der wichtigste Statthalter Andreottis, Salvo Lima, von einem Killerkommando ermordet, und es war hier einhellige Meinung, dass das eine Attacke gegen Andreotti selbst war. Als ,Strafe‘ sozusagen, weil die größten Capimafia letztinstanzlich zu lebenslänglich verurteilt worden waren: Andreotti, genannt ,zi Giulio‘, Onkel Giulio, galt, ob zu Recht oder zu Unrecht, hier in Palermo seit jeher als derjenige, der am Ende die Straflosigkeit der Mafia durch seine Freunde in den Obergerichten garantiert hatte. Doch Andreotti stand damals politisch sehr unter Beschuss, er hätte wohl wirklich nichts machen können.“ Die Mafia, auch das weiß man in Palermo, vergibt solche „Schwächen“ nicht: „I patti vanno rispettati“ heißt der Schlüsselsatz, Verträge müssen eingehalten werden, ganz gleich wie. „Und so erschien es vielen hier nur eine weitere Drehung der Daumenschraube, als angebliche Mafia-Aussteiger Andreotti nun direkt anschuldigten, mit den Clans gekungelt zu haben.“ Es wäre, unter diesem Gesichtspunkt, also ein Prozess gewesen, den die Mafia gegen Andreotti eingefädelt hatte. Und der Freispruch ein Sieg gegen die Mafia, weil Andreotti seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen vermochte. Oder hatte die Mafia inzwischen ihre Meinung geändert, betrachtete das notorische Stehaufmännchen inzwischen wieder als möglichen Verbündeten und hatte durch geschickte Plazierung manipulierter „Kronzeugen“ – der wichtigste von ihnen hat in der Zeit des Prozesses sogar weitere Morde begangen – den Freispruch erst ermöglicht?

Sicher ist also gar nichts. Andreotti selbst hatte zu Anfang der Verhandlungen selbst immer wieder behauptet, die Mafia habe sich an ihm rächen wollen, weil er 1991/92 in den letzten Monaten seiner Amtszeit als Ministerpräsdient eine Reihe von Strafverschärfungen gegen Mafiabosse eingeführt und sogar eine neue Antimafia-Polizei mit eigenem Geheimdienst eingerichtet hatte. Doch dann hatte er plötzlich die Verschwörer nicht mehr unter sizilianischen Dunkelmännern gesucht, sondern in den USA. Die hatte er, daran ist kein Zweifel, als Politiker tatsächlich unzählige Male über den Tisch gezogen: Wäre er, wie es lange Zeit schien, gar noch Staatspräsident geworden, hätte sich der Große Bruder jenseits des Ozeans auf sieben Jahre ununterbrochener Hakelei ausgerechnet mit jenem Land einstellen müssen, das im immer heißer umworbenen Mittelmeer eine Schlüsselrolle spielt.

Mittlerweile sucht Andreotti die bösen Buben wieder in Italien – aber nicht mehr bei der Mafia, sondern bei Staatsanwälten und Politikern. Neben dem vormaligen Chefermittler Gian Carlo Caselli und dem stellvertretenden Leiter der Polizei, Gianni De Gennaro, steht besonders der derzeitige Parlamentspräsident Luciano Violante, seinerzeit Vorsitzender der Antimafia-Kommission des Parlaments, auf der Abschussliste Andreottis: es habe einen „Einflüsterer“ gegeben, raunt er ein ums andere Mal, der „sowohl die Staatsanwälte wie die Kronzeugen zu unrechtem Vorgehen“ gegen ihn angeregt habe. „Und da“, so unser Kioskbesitzer, „hat er von so vielen Seiten Zustimmung, dass es für ihn ein Kinderspiel ist, sich der Mafia erneut anzudienen.“ Tatsächlich gilt insbesondere der ehemalige Staatsanwalt Violante Leuten wie dem selbst von allerhand Prozessen genervten Oppositionsführer Berlusconi wegen seiner rigiden Juristenmoral als rotes Tuch; auch nicht wenige seiner eigenen Genossen von der KP-Nachfolgeorgansation Linksdemokraten wünschen den Mann zum Teufel, weil der brillante Jurist sie oft mit schneidender intellektueller Schärfe abgebürstet hat. Und speziell die „Ehrenwerte Gesellschaft“, wie sich die Mafia auf Sizilien gerne betiteln lässt, hat sehr ungute Erinnerungen an ihn: als Chef der Antimafiakommission hatte er Anfang der 90er Jahre aus dem vordem betulichen Debattierclub ein hochmodernes Ermittlungsinstrument geschmiedet, mit Hunderttausenden gespeicherter Dokumente, Namen, Gerichtsurteilen und Ermittlungsakten. Die konnten dann nicht nur Fachleute, sondern auch alle Bürger nutzen. Eine schriftliche Anfrage genügte, und schon spuckten die Faxe alles aus, was über den Betreffenden an Verfahren läuft oder an Verurteilungen vorlag, wurden sogar internationale Querverbindungen der einzelnen Clans in Sekundenschnelle sichtbar. Viele Geschäfte mafioser Firmen wurden so schon im Ansatz verhindert. „So einen zu kippen würde den Bossen hier die größte aller Genugtuungen bereiten“, sagt Bernardo. „Dann wäre der Freispruch wirklich eindeutig ein Sieg der Mafia.“

So oder so: Die bange Frage, die sich ganz Palermo mittlerweile stellt, ist die: was wird die Mafia aus dem Andreotti-Freispruch machen?

Fest steht für viele, darunter auch Bürgermeister Orlando, der seit fünfzehn Jahren mit einer kurzen – durch Andreottis Statthalter verursachten – Unterbrechung Palermo gegen die Mafia zu regieren versucht, dass „die Pax mafiosa, also die Enthaltung von spektakulären Gewalttaten während großer Prozesse, nun durchaus ein abruptes Ende haben könnte“. Polizeistellen berichten von einer regen Flucht ganzer Familien, aus denen die gegen Andreotti in Stellung gebrachten „Kronzeugen“ kommen: „Wir nehmen an, dass besonders diejenigen, die die Wahrheit gesagt haben, jetzt in wilder Flucht ausrücken“, vermuten Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Palermo.

Zur Trennung der Spreu vom Weizen taugt die Beobachtung der Flucht trotzdem nicht. Denn auch diejenigen, die „auf Anordnung ihres Bosses ihre Aussagen gemacht haben, um andere Zeugen zu diskreditieren“, weiß ein Beamter des besonders mafiadichten Viertels Porta Nuova, „sind sich ihres Lebens nicht mehr sicher: Nach getaner Arbeit liquidiert die Mafia nicht selten ihre Zuarbeiter – für den Fall, dass kluge Staatsanwälte nun für das Revisionsverfahren den einen oder anderen der eingeschleusten Zeugen umdrehen möchten.“

Im ZEN-Viertel, einem der durch mafiose Bauspekulation einst verkommensten, unter der Ägide Orlando einigermaßen sanierten Viertel Palermos, werden seit dem Urteil die vorher immer willkommenen Abgesandten des Bürgermeisters vielfach geschnitten: Man weiß nie, ob sich die Banden nicht rächen wollen für die Dankbarkeit, die die Bewohner dem Antimafia-Mann gezeigt hatten. Und in die Kalsa, dem berüchtigten Hafenviertel Palermos, oder an den Corso dei Mille, wo die mächtigsten Clans ihr Quartier haben, gehen Polizisten und Carabineri, wie Kioskbesitzer Bernardo beobachtet hat, seither nicht mehr nur zu zweit oder dritt hin, sondern lieber gleich als ganze Mannschaft – mit ständig eingeschaltetem Sprechgerät zur Präfektur und den nächsten Dienststellen, wo weitere Einsatzgruppen in steter Bereitschaft zum Ausrücken harren.

Viele Probleme, die die Mafia sonst eher in Shootouts als über friedliche Marktregulierung löst, sind in den nun gut fünf Jahren des „Pax mafiosa“ sozusagen liegen geblieben. Zu den brennendsten gehört nach Ermittlermeinung die Wiedererlangung der Oberherrschaft in bestimmten Bereichen, die in den letzten Jahren und Monaten verloren gegangen waren: so über den Drogen- und Waffenhandel, den sich die neapolitanische Camorra, mehr aber noch die apulische „Sacra corona unita“ unter den Nagel gerissen haben – letztere vor allem wegen der räumlichen Nähe zum Balkan, auf dem nach dem Kosovo-Krieg und dem Einrücken der Nato-„Friedenskontingente“ ein lukrativer Absatz lockt. „Derlei könnte die Gangsterwelt ganz Unteritaliens in Brand setzen“, fürchtet ein amtlich noch unter Verschluss gehaltenes Dossier des zivilen Geheimdienstes SISDE, dessen Inhalt unter Palermos Polizisten die Runde macht. Die Präfekturen der sieben Provinzen Siziliens haben in Rom bereits für alle Fälle massive Polizei- und Carabinieri-Verstärkung angefordert – „sie kommen auch bereits an“, wie Carmelo von der Pasticceria an der Via Vittorio Emanuele weiß, denn bei ihm fahren die Konvois meist vorbei, wenn sie im Hafen eingelaufen sind und zur Präfektur wollen.

Die Veränderung Palermos wurde bereits in wenigen Stunden geradezu physisch sichtbar. Die Rolläden und schweren Eisengitter vor den Schaufenstern und Eingangstüren der Palazzi, in den letzten Jahren immer länger am Abend geöffnet, werden jetzt wieder kurz nach Anbruch der Dunkelheit heruntergezogen, und selbst harmlose Fragen nach der Adresse eines Geschäftes oder einer Wohnung in der Nachbarschaft bekommen wieder wie in den schießwütigen 70er und 80er Jahren die stereotype Antwort: „Keine Ahnung, nie gehört.“ Die Omertà, die Verschwiegenheitspflicht, hat sich wieder undurchdringlich auf die Stadt gesenkt.