Superzyklon verwüstet Orissa

Die Zahl der Toten bei dem Wirbelsturm im ostindischen Bundesstaat wird auf über tausend geschätzt. Das Kommunikationsnetz ist zusammengebrochen  ■   Aus Delhi Bernard Imhasly

Eine einzige Fernverbindung funktionierte am Samstag noch in Orissa – das Satellitentelefon des Regierungspräsidenten Giridhar Gomango. Es zeigt das Ausmaß des Wirbelsturms, der am Freitag mit Windgeschwindigkeiten von 260 Kilometern pro Stunde und acht Metern hohen Flutwellen über den armen ostindischen Bundesstaat hereinbrach. Zwölf Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung – wurden davon heimgesucht, 1.2 Millionen sind obdachlos, und die Zahl der Toten wird auf über tausend geschätzt.

Doch diese Zahl ist reine Spekulation. Der „Superzyklon“ hat alle Kommunikationswege – Telefonverbindungen, Straßen, Eisenbahnlinien – unterbrochen, und mit seinem einzig verbliebenen Telefon konnte der Chefminister Orissas dem indischen Premierminister Atal Bihari Vajpayee nur die katastrophale Situation um ihn herum schildern. Sein Haus stehe unter Wasser, sagte er, während er seiner Frau in Delhi mitteilte, sie solle alles tun, um Hilfe zu mobilisieren. Wenn nötig solle sie in den Hungerstreik treten.

Doch auch die rasch aufgebotenen Armee-Einheiten warteten gestern noch in verschiedenen Flughäfen des Landes mit Rettungsmaterial auf ihren Einsatz. Wegen der anhaltenden Regenstürme und der Winde von immer noch 120 Kilometer pro Stunde lag der Flugverkehr zunächst lahm. Auch ein Komitee von vier Ministern, die sich am Samstag mit Helikoptern ein Bild über das Ausmaß der Katastrophe machen wollten, musste unverrichteter Dinge nach Delhi zurückkehren.

Das Auge des Zyklons befand sich in der Nähe der Hafenstadt Paradip – dort, wo das indische Dreieck nach Osten abflacht – , als er das Festland erreichte. Paradip ist ein wichtiger Umschlagplatz und Werfthafen. Es war der Hafenbehörde noch rechtzeitig gelungen, die Schiffe ins freie Meer auslaufen zu lassen, weil der Sturm sie sonst in ihren Vertäuungen zerschmettert hätten. Doch die Anlagen – Kräne, Transportbänder, und Schleusen – sollen zum großen Teil zerstört sein. Auf einer Länge von 30 Kilometern soll das Meerwasser kilometerweit und meterhoch ins Landesinnere eingeflossen sein, während die Winde Häuser, Bäume und selbst exponierte Bodenteile weggerissen haben. Entlang der ganzen ostindischen Küste werden noch hunderte von Fischern vermisst.

Dass sich Fischer überhaupt noch auf See befanden, zeigt, wie schlecht das Katastrophenwarnsystem in Indien funktioniert. Der Sturm war von den Wettersatelliten seit einer Woche in seiner wachsenden Gestalt gesichtet und in seiner rasch wechselnden Richtung verfolgt worden. Bereits am Mittwoch war klar geworden, dass sich der Wirbelsturm zu einem „Superzyklon“ entwickelte, ein Sturm der so genannten Kategorie 5 , der mit seinen 260 Kilometern Geschwindigkeit achtmal zerstörerischer ist als ein normaler tropischer Sturm. Trotz der sofort ausgegebenen Katastrophenwarnung des Wetterdienstes wurden nur etwa 200.000 Menschen evakuiert, unter anderem deshalb, weil die Behörden noch damit beschäftigt waren, die Schäden des Wirbelsturms zu beseitigen, welcher vor zwei Wochen diesen bitterarmen Staat heimgesucht hatte.

Orissa rangiert in fast allen Kennzahlen zur Festlegung des wirtschaftlichen und sozialen Profils unter dem indischen Durchschnitt. Das Wachstum der Bevölkerung, das auf einer Fläche viermal so groß wie die Schweiz auf 36 Millionen geschätzt wird, liegt mit rund 3 Prozent um ein Drittel über dem Landesmittel. Weniger als 50 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben, und die Hälfte der Bewohner sind noch nicht zwanzig Jahre alt. Der Staat ist aber mit Bodenschätzen reich gesegnet. Doch die zahlreichen Stahlwerke liegen in Stammesgebieten, in denen noch heute Hungersnöte ausbrechen.

Wie schwach die Infrastruktur auch im Falle von Wirbelstürme ist, zeigt das Beispiel des Hafens von Paradip, in dem jährlich 25 Millionen Tonnen Fracht umgeschlagen wird. Er besitzt nur veraltete Funkgeräte mit einer Reichweite von 10 bis 15 Kilometern. Zwar ist es schwierig, mehrere tausend Dörfer zu erreichen, die oft noch nicht einmal an das Straßen- und Fernmeldenetz angeschlossen sind. Dem weiter östlich gelegenen Bangladesch, wo die Bevölkerung ebenso arm sind, ist es aber gelungen, mit einem effektiven Frühwarnsystem die Menschen in vobereitete Schutzanlagen zu evakuieren und die Todesspur der Stürme abzuschwächen.

Dabei hat Indien eine reiche Erfahrung mit Sturmkatastrophen. 1971 hatte ein Wirbelsturm den gleichen Staat Orissa heimgesucht, 1991 hatte ein Zyklon im südlichen Nachbarstaat Andhra Pradesh über 10.000 Menschen hinweggerissen, und es war erst letztes Jahr, dass ein ähnlicher Sturm die Westküste von Indien heimgesucht hatte.