Mit dem Fortschritt kam der Tod

Poliert und geschält musste der Reis sein. In Südostasien, wo Reis häufig noch heute das einzige Nahrungsmittel ist, kann das für viele Menschen Krankheit und Tod bedeuten  ■   Von Petra Schwartz-Klapp und Thorsten Klapp

Die Tragödie begann im vorigen Jahrhundert, als mit der allgemeinen Entwicklung der Technik die Verfeinerung der Lebensweise begann. Der industrielle Fortschritt machte es möglich, auch die Lebensmittel zu verändern. Und so verlor auch der Reis seinen Charakter: Er wurde geschält und poliert, wobei man seine Randschichten und seinen Keim beseitigte. Auf diese Weise glaubte man die höchste Qualität des Reises zu erhalten: weiß, gleichmäßig und glatt wie aus Porzellan.

Doch dieser Fortschritt sollte bald tausende Menschen das Leben kosten, als der weiße Reis in Kulturen vordrang, wo traditionell Reis die Hauptnahrung darstellte. Zum Beispiel Niederländisch-Indien, dem damaligen Kolonialgebiet der Holländer. Dort trat plötzlich seuchenartig eine Krankheit auf, die den Wissenschaftlern große Rätsel aufgab: Beri-Beri.

Besorgt entsandten die Holländer eine wissenschaftliche Kommission, um die Ursache dieser scheinbar unzähmbaren Seuche zu erforschen, die sich immer weiter ausbreitete. Zu dieser Zeit – um 1880 – machte die medizinische Wissenschaft sprunghafte Fortschritte. In rascher Folge entdeckte man die Erreger der Tuberkulose, der Diphterie, des Wundstarrkrampfs, des Thyphus, der Pest und anderer Infektionskrankheiten, die jahrhundertelang die Menschheit in Schrecken hielten.

Jetzt, nachdem man die winzigen Verursacher kannte, konnten geeignete Maßnahmen gegen sie ergriffen werden. In der Euphorie der revolutionären Entdeckungen glaubten viele, das Ende aller Krankheiten sei gekommen. Man nahm an, überall seien Mikroben am Werk, die man nur bekämpfen müsste.

Und so suchte man auch bei Beri-Beri nach Erregern: im Blut der Kranken, in deren Auswurf, im Wasser, in ihren Nahrungsmitteln – vergeblich. Christiaan Eijkman, Mitglied der ausgesandten Kommission, machte dann eine bemerkenswerte Beobachtung: Einige seiner Hühner torkelten über den Hof und ließen die Flügel hängen. Ihre Bewegung erinnerte an den Gang der Beri-Beri-Patienten. Nach einer genaueren Untersuchung bestand kein Zweifel mehr: Die Hühner hatten Beri-Beri.

Während aber die Krankheit beim Menschen tödlich verlief, wurden die Hühner überraschenderweise wieder gesund. Eijkmann suchte nach der Antwort des Rätsels, und er wurde fündig: Die Hühner erhielten normalerweise den billigen Naturreis zu fressen. Einmal ging das Futter aus, und so gab man ihnen polierten Reis, dieselbe Nahrung, die die Beri-Beri-Patienten erhielten.

Aufgrund dieser Kostumstellung wurden die Tiere krank. Als dann wieder der alte Naturreis zur Verfügung stand, gesundeten die Hühner. Eijkman dämmerte es. Ein erneutes Experiment bestätigte seine Vermutung: Der weiße Reis muss die Ursache von Beri-Beri sein!

Beri-Beri ist nur eine Mangelerkrankung

Es folgten weitere Versuche. Eijkman wusste, dass die Menschen in Gefängnissen, die länger als drei oder vier Monate sitzen mussten, an Beri-Beri erkrankten. Mit diesen Menschen wollte er seine Theorie belegen. Das Ergebnis war beeindruckend: Unter 10.000 Gefangenen, die Naturreis als Nahrung erhielten, fand sich nur ein einziger Beri-Beri-Kranker. In jenen Gefängnissen aber, wo die Hauptnahrung der Gefangenen aus poliertem Reis bestand, erkrankten 3.900 Menschen und 270 starben.

Eijkman hatte die Ursache von Beri-Beri gefunden. Doch seine Entdeckung stieß kaum auf Gegenliebe, vor allem nicht in wissenschaftlichen Kreisen, wo immer noch die Vorstellung tief verwurzelt war, Beri-Beri sei eine Infektionskrankheit.

1926 entdeckte die Wissenschaft, dass der Keim und die Schale des Getreides einen Stoff enthalten, der im Körper eine bedeutende Rolle spielt: das Vitamin B1. Mit dem Schälen des Korns geht es verloren. Eijkman Theorie wurde damit bestätigt: Beri-Beri ist nichts anderes als ein Mangel an diesem B-Vitamin. Mit dem Verzehr von Naturreis hätte man diese Krankheit besiegen können.

Aber selbst der neue Beweis führte nicht zur Veränderung der tödlichen“ Ernährungsgewohnheiten. 1947 beispielsweise gab es auf den Philippinen 24.000 Todesfälle durch Beri-Beri. Noch heute leiden Menschen in Asien an der Krankheit, die sich aus Armut hauptsächlich von Reis ernähren, der „natürlich“ poliert sein muss. Nicht viel anders ist es in Mitteleuropa: Weißer Reis, helles Mehl, Weißbrot und weiße Nudeln sind in!

Sicher gab es es plausible Gründe für die Umstellung von Vollkorn- auf Weißmehl: Im Zuge der Industrialisierung und Weiterentwicklung der Technik lösten wenige zentrale Großmühlenbetrieben die zahlreichen Kleinmüllereien ab. Das Mehl musste nun über längere Zeiträume gelagert werden. Und da Vollkornmehl durch den leicht verderblichen Keim nicht lange haltbar ist, entfernte man den Keim und die Schale des Getreides.

Dieser Sachzwang besteht heute nicht mehr. Jeder Bäcker könnte Getreide selbst mahlen, wie es bei Biobäckern üblich ist. Dass dennoch Weißmehl bevorzugt wird, mag vielleicht daran liegen, dass früher Weißbrot den Wohlhabenden vorbehalten war. Es galt als fein und edel. Weißmehl war ein Prestige-Nahrungsmittel. Kein Wunder, dass zur Französischen Revolution die Forderung gehörte: Weißes Brot für jedermann!

Es muss bei uns zwar niemand an Beri-Beri sterben, weil wir das Vitamin B1 auch über andere Lebensmittel, vor allem über Schweinefleisch, zu uns führen.

Vitaminmangel durch Weißmehlprodukte

„Aber eine leichte B1-Unterversorgung ist bei uns durchaus zu finden“, sagt der Diplom-Ökotrophologe Thomas Männle, Hauptgeschäftsführer des Verbandes für Unabhängige Gesundheitsberatung e.V. Deutschland (UGB) in Gießen. „Sie äußert sich durch Konzentrationsschwäche, Depressionen, verringerte Leistungsfähigkeit oder Appetitlosigkeit.“

Das Hauptproblem des ausgemahlenen Getreides ist jedoch folgendes: Getreide ist normalerweise ein bedeutender Lieferant von Ballaststoffen, die eine ganze Reihe schützender Wirkungen haben. „Aber durch das Abtrennen der Schale geht sehr viel des Ballaststoffanteils verloren“, so Männle. Die Folge: „Weil wir zu viele Weißmehlprodukte essen, nehmen wir zu wenig Ballaststoffe zu uns.“ In den letzten 100 Jahren ist der Ballaststoffanteil unserer Nahrung auf ein Viertel zusammengeschrumpft. Pro Tag und Kopf sind das durchschnittlich nur 10 bis 30 Gramm dieser unverdaulichen Faserstoffe, die alles andere sind als unnötiger Ballast, wie man früher annahm.

Zum Beispiel „leidet ein großer Teil der Bevölkerung an Verstopfung. 97 Prozent dieser Fälle aber nur deswegen, weil ihre Nahrung zu wenig Ballaststoffe enthält“, beklagt Männle. „Anstatt sich richtig zu ernähren, greifen viele zu Abführmitteln, die natürlich nur vorübergehend symptomatisch helfen.“ Verstopfung kann sehr schmerzhaft sein, wenn die Gase im Darm auf die inneren Organe drücken. Laut Männle ist denkbar, dass bei Risikopatienten durch zu starkes Pressen beim Stuhlgang sogar ein Schlaganfall ausgelöst werden kann.

„Es ist schon paradox“, so der Ernährungsexperte. „Diese Probleme müssten nicht sein. Es ist wie, wenn jemand immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und sich wundert, dass er Kopfschmerzen bekommt. Anstatt diese blödsinnige Verhaltensweise aufzugeben, nimmt er Kopfschmerztabletten ein, um das Problem zu lösen! Verstopfung lässt sich meist einfach durch vernünftige Ernährung vermeiden.“

Eine ballaststoffreiche Ernährung schützt aber nicht nur vor Verstopfung. Die Ernährungswissenschaftler sprechen ihr noch weitere Vorteile zu: Durch die Faserstruktur der Ballaststoffe muss die Nahrung im Mund intensiver und länger gekaut werden, wodurch mehr Speichel erzeugt wird. Die erhöhte Speichelmenge umspült die Zähne und reinigt sie von Nahrungsresten. Zudem neutralisiert sie die von Bakterien gebildeten Säuren, die ansonsten den Zahnschmelz angreifen und Karies hervorrufen würden.

Durch ihr Quellvermögen führen Ballaststoffe zu einer größeren Magenfüllung und verzögern die Magenentleerung, so dass die Sättigung länger anhält. „Ein ganz toller Vorteil in der heutigen Zeit“, betont Männle. „Das wirkt der Entstehung von Fettsucht entgegen.“ Wichtig sei jedoch, „dass die Ballaststoffe auch in nicht wärmebehandelter Form aufgenommen werden, um die maximale Wirkung zu entfalten“.

Ein weiterer Vorteil der Ballaststoffe: Im Darm umschließen sie die Nährstoffe, die auf diese Weise langsamer ins Blut gelangen. Das führt zu gleichmäßigen Blutzuckerverläufen und damit zu vermindertem Insulinbedarf – günstig für Diabetiker. Die Ernährungswissenschaftler sind zudem davon überzeugt, dass eine ausreichende Ballaststoffzufuhr auch Gallenbeschwerden, Gastritis und Hämorrhoidenbeschwerden vorbeugen könne.