Heute ist es wie vor 1989“

■  Zwei DDR-Bürgerrechtler streiten über Langzeitwirkungen der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Die Diagnose: Eine „moralische Distanz zur Bundesrepublik“

taz: Was war denn das wichtigere Datum? Der 9. November, also der Fall der Mauer, oder der 4. November, der Tag, an dem am Berliner Alexanderplatz eine halbe Million DDR-Bürger auf die Straße gingen?

Wolfram Kempe: Der 4. November.

Warum?

Wolfram Kempe: Weil der 4. November für mich das Ende der DDR kennzeichnete. Und zwar der DDR, so, wie sie war und wie sie keiner weiter haben wollte.

Klaus Wolfram: Der 4. November war das Datum, das mehr mit Demokratie und Revolution zu tun hatte. Rückblickend aber ist der 9. November wichtiger: Da schlug die Geschichte um.

Wolfram Kempe: Von den Konsequenzen her betrachtet ist das richtig, weil nur der 9. November überhaupt Konsequenzen hatte. Der 4. November hatte ja keine, jedenfalls nur kurze.

Klaus Wolfram: Der 4. November hat selbst heute noch Konsequenzen. In Ostdeutschland hat sich eine innere moralische Distanz zur Bundesrepublik herausgebildet. Im Selbstbewusstsein vom 4. November steckt mindestens genauso viel politische Substanz wie in den Konsequenzen des 9. November. Letzterer steht dafür, dass der Umbau der ostdeutschen Gesellschaft nicht aus eigener Kraft gemacht werden konnte, sondern dass die Mehrheit die Unterordnung unter das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik für nötig gehalten hat.

Wolfram Kempe: Die Mehrheit, von der du sprichst, war aber im Einklang mit den Eliten in der Bundesrepublik.

Klaus Wolfram: Heute ist der Versuch, über den Umweg der Bundesrepublik zur Selbständigkeit zu kommen, nicht identisch mit den Verwertungsinteressen der Elite. Man muss dem Volk nicht übel nehmen, dass es die Selbstständigkeit in der Form ergriffen hat, in der sie damals greifbar war.

Bestand der Aufbruch des 4. November im Wesentlichen in der Ablehnung der DDR? Oder war im Slogan von der Verbindung zwischen Sozialismus und Demokratie auch schon eine Alternative dazu spürbar?

Klaus Wolfram: Die soziale Gleichheit, die bis dahin entstanden war, sollte nicht aufgehoben, sondern demokratisiert werden. Das utopische Moment war also reichlich vorhanden. Und es ist noch immer lebendig in den Fragezeichen, die man hinter alle möglichen Verkehrsformen der Bundesrepublik setzt.

Wolfram Kempe: Was für mich wichtig war, war die sichtbare Veränderung, die in den Menschen vor sich gegangen war, nachdem die Demonstration vorüber war: dass die Menschen plötzlich aufrecht gingen und sich gerade in die Augen schauten, was, solange ich die DDR kannte, nie der Fall war. Das war nach der Maueröffnung sofort wieder vorbei.

War der 9. November das Ende des Aufbruchs?

Klaus Wolfram: Nein, das ist zu früh. Es gab Aktivitäten aus vielen Schichten der Bevölkerung bis Ende 1990. Natürlich gab es dieses Erschrecken über die Ausweglosigkeit, über den Substanzverlust der DDR-Wirtschaft, die aus eigener Kraft nicht mehr zu reformieren sei, dann schon Anfang 1990. Aus dieser Erfahrung, die ja für die meisten Beteiligten eine Selbsterfahrung war, denn sie arbeiteten ja in den verrotteten Betrieben, kam die politische Depression, das Bedürfnis, sich an einen Stärkeren anzulehnen, der es schon irgendwie richten wird. Heute ist die Grundkonstellation, dass die ostdeutsche Gesellschaft gleichsam grübelt und dass sie an keiner Stelle in der bundesdeutschen Öffentlichkeit in hinreichender Weise hervortritt. Das ist ähnlich wie vor 1989. Nicht die offizielle Politik drückt aus, was die Leute bewegt, sondern es gibt ein davon völlig distanziertes Bewusstsein der Ostdeutschen.

Was bedeutet der 9. November für Klaus Wolfram?

Klaus Wolfram: Der 9. November steht für die Öffnung der DDR hin zur Welt. Das ist es, was wir alle miteinander nötig hatten. Dass die ostdeutsche Demokratisierung dadurch zum Teil abgebrochen und später in eine marktwirtschaftliche Privatisierung umgebogen wurde, das ist leider wahr. Der 9. November steht aber auch für die Selbstständigkeit, die alle Bürger der DDR haben wollten und ohne die es ja auch keine Demokratie gibt.

Wolfram Kempe: Das ist nicht wahr. Gerade dafür steht der 4. November. Der 9. November steht dagegen für die wieder beginnende Ungleichheit unter den Leuten. Wenn man so will, war das der Beginn der Bundesrepublik. An diesem Tag war alles Selbstbewusstsein, das ja auch durch den 4. November erworben war, verflogen, weil den Leuten ihre ökonomische Zweitklassigkeit vor Augen geführt wurde.

Klaus Wolfram: Das halte ich für eine schulmäßige Bewertung. Ich kann mich selber sehr gut daran erinnern, dass mir am 9. November auch nicht wohl war. Ich wusste, dass damit das Spannende im Demokratisierungsprozess Ostdeutschlands entweder abbricht oder zumindest furchtbar zurückgedrängt wird. Das ist schon alles richtig. Aber man kann diese Öffnung hin zur ganzen Welt nicht übersehen. Sie ist der tiefere Vorgang.

Wolfram Kempe: Es mag ja sein . . .

Klaus Wolfram: Man kann doch keine Demokratisierung in der Nische vollziehen.

Wolfram Kempe: . . . dass der 9. November historisch das wichtigere Datum war, und der 4. November bis auf die, die du genannt hast, keine Konsequenzen hatte. Aber man kann dann auch fragen, wer die Mauer aufgemacht hat. Das Volk war es jedenfalls nicht. Das war die SED-Führung.

Klaus Wolfram: Etwa von sich aus?

Wolfram Kempe: Die Wahrheit werden wir nie erfahren. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass es eine Forderung nach Maueröffnung am 4. November gab, außer der Parole „Visafrei bis nach Hawaii!“. Da ging es zwar auch um Reisefreiheit, aber da stand etwas anderes im Vordergrund.

Am Alexanderplatz hängt heute ein riesiges Transparent, auf dem steht: Wir waren das Volk. Kann man vom 4. November nur noch in der Vergangenheitsform reden?Oder findet die Distanz, von der ihr sprecht, auch wieder einen politischen Ausdruck?

Klaus Wolfram: Noch sehe ich davon wenig. Ich glaube schon, dass wir nach diesen zehn Jahren am untersten Punkt der Umgruppierungsprozesse der Ostdeutschen angekommen sind. Es sind nur kleine Gruppen, die sich die Demokratisierung nach wie vor zum Ziel gesetzt haben. Und ein flächenhafter Vorgang ist allein die Protestwählerei der PDS. Das ist mir zwar ganz sympathisch, aber inhaltlich nicht von Bedeutung.

Eine andere Form ist die Heiterkeit, mit der man am kürzeren Ende der Sonnenallee über die DDR lacht.

Wolfram Kempe: Das wundert mich nicht. Über die DDR haben die DDR-Bürger schon immer am lautesten lachen können.

Klaus Wolfram: Aber politische Energie ist das noch nicht.

Interview: Uwe Rada
‚/B‘ Klaus Wolfram (49) ist Philosoph und war Mitbegründer des Neuen Forums sowie des BasisDruck-Verlags und Herausgeber der Zeitung „Die Andere“. Heute ist er Vorsitzender der Stiftung des Hauses der Demokratie. Wolfram Kempe (39) ist Schriftsteller und Journalist. 1976 wurde er aus ideologischen Gründen von der EOS relegiert. Kempe gründete im Dezember 1990 den „Anzeiger“, eine der ersten Oppositionszeitschriften der Wende. Später engagierte er sich beim „Runden Tisch Instandbesetzungen“ in Berlin und war Mitherausgeber der Zeitschriften „Sklaven“ und „SklavenAufstand“. Kempe ist seit 1998 Mitglied der PDS.