■ 10 Jahre Mauerfall (2): Die Franzosen wären heute noch dabei, den Vereinigungsvertrag auszuhandeln. Das neue Deutschland hingegen funktioniert. Nur die „Einheit“ braucht noch Zeit
: Einmarsch der Deutschen

Die berühmte Rede von „Blut, Schweiß und Tränen“ wurde leider nie gehalten

Frage: „Was haben Frankreich und die DDR gemeinsam?“ Antwort: „In beiden Ländern sind die Deutschen einmarschiert.“ Es ist ungerecht, provozierend und ohne Grundlage, dieser idiotische Spruch, der in Zirkeln der Intellektuellen kursierte und auf den Fluren von französischen Gymnasien nach dem Fall der Mauer die Runde machte.

Ungerecht. Ich erinnere mich noch an unser Erstaunen während der großen Montags-Demonstration am Ring in Leipzig. Wir, die ausländischen Korrespondenten, die ständig mit dem Neuen Forum und anderen Gruppierungen von Dissidenten, die Anhänger einer unabhängigen DDR waren, in Kontakt standen, trauten unseren Augen nicht, als die ersten Spruchbänder über den Massen flatterten: „Wir sind ein Volk!“ Zuerst tauchten sie nur vereinzelt auf, wie ein Unfall innerhalb dieses Meeres von Freiheitsslogans, doch dann, im Laufe der Wochen, wurden sie immer zahlreicher.

Die große Mehrheit der Ostdeutschen hat die Deutschen aus dem Westen mit offenen Armen empfangen. Aber natürlich wollten die Deutschen aus dem Osten auch die westlichen Privilegien genießen: die Deutsche Mark, die Freiheit zu reisen und sich zu äußern, die Westprodukte in ihren bunten Verpackungen, die man im Wohnzimmer ausstellte, um die Nachbarn neidisch zu machen. So darf nicht vergessen werden: Die Ostdeutschen haben ihre Tür für den Eindringling aus dem Westen ganz weit geöffnet. Niemand hat sie dazu gezwungen.

Provozierend. 1989 entdeckten die Franzosen gerührt „die anderen Deutschen“. Ärmer, weniger selbstbewusst – die Ostdeutschen waren uns sympathisch. Eine erstaunliche soziologische Studie, die in Paris veröffentlicht wurde, zeigte, dass die Ostdeutschen ihr Leben mehr genossen als die Westdeutschen, dass sie weniger arbeiteten, mehr Sex und folglich auch mehr Kinder hatten. Die Studie folgerte daraus, dass sie „lateinischer“ waren als ihre Brüder und Schwestern im Westen. Und wir schlossen daraus, dass sie uns ähnlicher waren.

Die Vereinigung – überraschend und im Laufschritt – erweckte so alle alten Dämonen wieder zum Leben, die in der französischen Vorstellung schlummerten. „Muss man Angst vor dem neuen Deutschland haben?“, titelten einhellig die Blätter. Zu bevölkerungsreich, zu groß, zu weit im Osten gelegen, zu reich, zu arrogant ... Alle diese Befürchtungen brachen sich in aller Öffentlichkeit Bahn und hatten dabei kaum etwas mit der Realität zu tun. Diese Wahnvorstellungen waren nicht gerechtfertigt. Die Mauer ist friedlich gefallen und Deutschland ein verlässlicher Partner geblieben, der nach wie vor fest im Westen verankert ist.

Ohne Grundlage. Wie sehr hat man den unglücklichen Satz von Helmut Kohl diskreditiert und verdammt, der den Ostdeutschen „blühende Landschaften“ versprochen hatte. Heute ist es fast schon politisch unkorrekt, diesen Satz zu verteidigen. Dennoch, die Straßen in der ehemaligen DDR beweisen, dass die Metamorphose im Osten keine wahltaktische Schimäre war. Die schönen Fassaden der alten Städte, vormals grau, wurden in Zitronengelb und blassem Blau gestrichen. Die Straßen wimmeln vor Menschen und neuen Geschäften.

Die Anzahl der Restaurants, Cafés, Reisebüros ist explodiert. Die vereinzelten Trabants, die noch manchmal zwischen blitzsauberen Peugeots und Volkswagen herumknattern, kommen einem schon vor wie Relikte aus einer anderen Zeit. Es gibt auch „blühende Landschaften“, die man nicht sofort mit bloßem Auge sieht: Die Gesundung des Bodens und des Trinkwassers, die von der Industrie verschmutzt wurden, die Gesundung der Luft, die von Kohleheizungen verpestet wurde, und die Sanierung von Müllhalden. Die Kanalisation, das Telefonnetz, die Versorgung mit Gas und Strom. Alles wurde neu gemacht.

Ich kenne keine andere Region in der Welt, wo die Veränderungen so schnell erfolgten. Wer hätte es besser machen können? „Wir wären noch immer dabei, den Vereinigungsvertrag auszuhandeln“, sage ich manchmal, um mich über die Franzosen lustig zu machen. Das neue Deutschland funktioniert. Die Deutschen „haben es geschafft“, dieses kleine, unübersetzbare Verb, voll von aufbauender Energie und Opferbereitschaft. Zweifellos, Deutschland hat sich verschuldet. Zweifellos, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Zweifellos, es gibt noch eine Menge zu tun.

Aber, wie hätte man es anders machen sollen? Zehn Jahre danach bedrückt mich dieses Lamentieren im Osten wie im Westen immer weniger. Wenn ich an Polen denke, sage ich mir, dass die Ostdeutschen Glück gehabt haben und dass sie das nicht vergessen sollten. Zu wenig Ostdeutsche vermögen aus dieser großer Veränderung, die sie durchgemacht haben, Kraft und Selbstvertrauen zu schöpfen. Wenn ich aus England zurückkehre, sage ich mir, dass die Westdeutschen immer noch im Wohlstand baden und endlich aufhören sollten, die Armen zu spielen. Gibt es dort nicht ein gewaltiges Missverständnis? Die Ostdeutschen haben den Eindruck, dass man ihnen Gewalt angetan hat, denn niemand hatte den Mut, die überzogenen Hoffnungen zu bremsen. Die Westdeutschen haben Schwierigkeiten damit, den Gürtel enger zu schnallen. Die berühmte Rede von „Blut, Schweiß und Tränen“ wurde leider nie gehalten.

Ungerecht? Provozierend? Ohne Grundlage? Ist denn nicht trotz allem ein Quentchen Wahrheit in diesem dummen Vergleich? Zehn Jahre danach schreien die Symptome die Unzufriedenheit zum Himmel: Die PDS räumt bei den 45- bis 57-Jährigen ab. Diese Generation der „jungen Alten“, die geopfert worden ist. Wie kann eine Gesellschaft, in der man mit 45 Jahren alt ist, harmonisch sein?

Die Kinos, in denen „Sonnenallee“ gezeigt wird, sind dauernd voll besetzt, und es herrscht dort eine gespenstische Atmosphäre, denn jeder erkennt in dem Film ein Stück seiner Geschichte. Genau an dieser Stelle ist die Vereinigung gescheitert: Die Ostdeutschen sind ihrer Vergangenheit beraubt, deren Spuren man so schnell wie möglich ausgelöscht hat. Ja, man bemühte sich, sie pauschal zu diskreditieren. So wird die Debatte über die staatliche Kinderbetreuung im Osten immer als positives Beispiel des Systems angeführt, während sie im Westen dafür verantwortlich gemacht wird, Generationen von Skinheads und Sozialfällen produziert zu haben.

Vor einiger Zeit habe ich in Bautzen an einem Abendessen des örtlichen Rotary-Clubs teilgenommen. Dort war auch ein Kleinunternehmer aus der Region anwesend, der sehr begeistert davon war, dass ihm die Marktwirtschaft ermöglicht habe, endlich seine Talente zu entwickeln. Während er von den zahlreichen Möglichkeiten erzählte, die ihm nun offen stünden, sprühte er vor Enthusiasmus.

Es gab dort auch einen Juristen aus Düsseldorf, der erzählte, wie sehr das schöne Thüringen bereits zu seiner zweiten Heimat geworden sei. Und ich traf die Frau eines Bankers aus München, die von ihren Nachbarn erzählte, den Freunden ihrer Kinder und der Wärme, mit der man sie empfangen habe.

Die Gläser erhoben, Trinksprüche ausgebracht, schienen Ost und West in perfekter Symbiose zu leben. Langsam leerte sich der Saal und am Ende des Abends blieb nur noch ein harter Kern von sechs Personen übrig. Der Unternehmer beklagte sich über diese Gesellschaft von Workaholics, die kalt sei und keine Rücksicht auf Schwache nähme.

Die Ostdeutschen haben ihre Tür dem Eindringling aus dem Westen weit geöffnet

Der Jurist erzählte, dass eines Tages – er war noch eingehüllt in sein Saunabadetuch – jemand, ohne zu wissen, dass er Wessi war, in einer wahren Flut von unfreundlichsten Beschimpfungen über „diese Arroganten aus dem Westen“ herzog. Und die Dame aus München vertraute mir an, dass eine solche Unterhaltung über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in Anwesenheit aller Mitglieder des Clubs unmöglich wäre, ohne dass ein großer Streit ausbräche.

Eine Invasion? Zehn Jahre danach gibt es noch so viele Wunden, Groll und Schwierigkeiten zusammenzuleben. Man wird Zeit brauchen. Viel Zeit, um sie auszulöschen. Diese Zeit, die sich die Deutschen vor zehn Jahren vergessen haben zu nehmen.

Pascal Hugues

Übersetzung: Barbara Oertel