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Brasiliens neues Aerobic des Herrn

In dem lateinamerikanischen Land jagt eine kirchliche Massenveranstaltung die nächste. Die „Charismatische Erneuerungsbewegung“ möchte den protestantischen Kirchen das Wasser abgraben  ■   Aus São Paulo Gerhard Dilger

Ein Meer von weißen Taschentüchern wogt hin und her. Voller Inbrunst werden rhythmische Gesänge in den wolkenlosen Himmel geschmettert. Von einer imposanten Bühne aus dirigiert ein baumlanger Mann mit rudernden Armbewegungen die Menschenmengen, die sich kreuzförmig in die vier Himmelsrichtungen ergießen.

Marcelo Rossi, 32-jähriger Priester italienischer Abstammung, hat es wieder einmal geschafft: 600.000 Gläubige folgten am Dienstag seinem Ruf nach Campo Grande, einem ehemaligen Industriegebiet im Süden São Paulos. Dort zelebrierte sein Mentor, Bischof Fernando Figueiredo, den Allerseelen-Gottesdienst. Der Papst hatte der Massenveranstaltung unter freiem Himmel seinen ausdrücklichen Segen erteilt. Auch die Beteiligung von Schlageridol Roberto Carlos und dem Schnulzenduo Chitãozinho e Xororó ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wer der wirkliche Star des Tages war: Padre Marcelo, wie ihn seine Fans nennen.

Damit läutete der populärste Vertreter der katholischen „Charismatischen Erneuerungsbewegung“ eine weitere Runde im Wettstreit der Kirchen um Anhänger und Einschaltquoten ein: Am 12. Oktober war er vor 160.000 ZuschauerInnen im Maracanã-Stadion von Rio aufgetreten. Die protestantische „Universelle Kirche des Gottesreichs“ hielt am vergangenen Wochenende am gleichen Ort mit 185.000 Menschen dagegen.

Die fünfzigjährige Hausfrau Maria Augusta Muniz hat schon Stunden vor Beginn der Messe ausgeharrt, um Rossi nicht nur auf der Leinwand sehen zu können. Sie ist gekommen, um für das „Wunder“ einer gelungenen Brustoperation zu danken. Zwei Jahre lang war sie Mitglied der „Universellen Kirche“. „Dort habe ich Jesus kennengelernt. Doch die katholische Kirche ändert sich, sie wird der universellen immer ähnlicher, nur dass sie nicht soviel Geld kassiert.“ Wie die meisten Anwesenden kommt sie aus einem Armenviertel São Paulos.

Rossi, mit einer weißen Soutane bekleidet, feuert die Menge an. Seitlich von der Bühne tanzen Mönche in braunen Kutten und Schüler aus dem Priesterseminar. Das „Aerobic des Herrn“ ist zum Markenzeichen des ehemaligen Sportlehrers geworden. Mit seinen CDs „Lieder zum Lobpreis des Herrn“ und „Ein Geschenk für Jesus“ hat er die brasilianischen Hitlisten gestürmt – fünf Millionen wurden in einem Jahr verkauft.

Seine Familie hat in Campo Grande die Lagerhalle einer Glasfabrik angemietet, die nun „Heiligtum des byzantinischen Rosenkranzes“ heißt. Dort hält Rossi freitags und sonntags Gottesdienste ab. Gesänge, kurze Sprecheinlagen und Gebete wechseln sich ab. Eine längere Predigt fehlt. Die Stimmung erinnert eher an ein Popkonzert als an eine Messe. Zehntausende holen sich hier Trost und Hoffnung zum Durchhalten im harten Alltag.

Ebenso durchgeplant wie die Dramaturgie der Rossi-Messen ist die multimediale Offensive der Charismatiker. Wie die Pfingstkirchen kamen sie aus den USA nach Brasilien, doch standen sie lange Zeit im Schatten der „Theologie der Befreiung“. Erst in den letzten zwei Jahren entwickelten sie sich zum Massenphänomen – etwa 10 Millionen Brasilianerinnen zählen sich dazu. Rossi produziert täglich ein einstündiges Radioprogramm, das 95 Sender im ganzen Land übernehmen.

Die meisten Zuschauer jedoch erreicht Rossi durch ständige Auftritte in den populärsten Fernsehshows des Landes, in die sich seine quotensteigernden Kurzauftritte perfekt integrieren lassen. Kommerz und Religion gehen hier eine problemlose Symbiose ein. Am Dienstag sendete TV Globo live die Allerseelenmesse unter dem Motto „Ich glaube an das Leben“ mit der anschließenden Show, in der Opernsänger Agnaldo Rayol die Titelmelodie der Globo-Seifenoper „Terra Nostra“ vortrug.

Das „emotionale Spektakel des neuen Katholizismus“ werde von den Medienkonzernen gefördert, um die Probleme des Landes zu vertuschen, heißt es im jüngsten Monatsbericht der brasilianischen Bischofskonferenz. Dadurch sollen „das hegemoniale Denken“ und die Wirtschaftsordnung aufrechterhalten werden, die „den Reichtum konzentriert sowie Armut und Ausgrenzung verstärkt“.

Wohl oder übel beugen sich die Skeptiker in der Kirchenhierarchie dem Erfolg Rossis. „Nun gut, wir nehmen die Charismatiker an, um zu zeigen, dass die Kirche fröhlich ist. Aber wir müssen dies mit unserem sozialen Engagement zusammenbringen“, meint der progressive Bischof Demétrio Valentini. Derweil plant Rossi seine nächste Megashow: Bald möchte er eine Million Menschen auf die Autorennstrecke von São Paulo locken.

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