Neuland schon in Sicht

Die Niederlande expandieren mal wieder – nach alter Landessitte und guten Erfahrungen ins Wasser hinein. Vor den Toren Amsterdams entsteht zurzeit eine neue Stadt: Ijburg, ein Inselreich im Ijmeer, das, mit ingenieurwissenschaftlich modernster Technik aufgeschüttet, bis zum Jahre 2015 gut 45.000 Menschen Wohnraum und neue Lebensqualität bieten soll. Eine Ortsbesichtigung von Henk Raijer

Der Tiefenmesser spielt verrückt. 1,52 – 1,74 – 1,41. Still zeigt die Digitalanzeige im Sekundentakt die Warnung an. „Bei Westwind haben wir hier oft zu wenig Tiefgang“, erklärt Rob Hilster das Auf und Ab der roten Zahlen, wirft das Ruder einmal rum und hält Ausschau nach einer Stelle, wo wir an Land gehen könnten. Bei 1,32 Meter bleibt die Anzeige stecken. Und damit die „Ijburg 2“.

Beherzt legt der rundliche Skipper, der zwei kleine Ringe im Ohr trägt, den Rückwärtsgang ein. Die Schraube des Schleppers protestiert, wühlt literweise Sand auf. „Das Ijmeer vor Amsterdam ist außerhalb der Fahrrinne nirgendwo tiefer als anderthalb bis zwei Meter“, brüllt Hilster gegen den Lärm des aufheulenden Dieselmotors. „Wie sonst könnten wir hier neues Land gewinnen.“

Ijburg, das Inselreich in den Gewässern vor Amsterdam, nimmt Gestalt an. Möwen, Strandläufer und Kormorane haben Haveneiland, das erste Teilstück des neuen Wohnbezirks der niederländischen Hauptstadt, schon mal in Besitz genommen. Die Vögel stören sich nicht an den Bulldozern, die an den Rändern des frisch aufgeschütteten Landes Dämme aufwerfen. Auch die Männer in ihren roten Öljacken und Gummistiefeln, die wuchtige Kräne steuern, mit denen sie Entwässerungsröhrchen in den Boden treiben, wecken höchstens ihre Neugier. „So machen wir hier Land“, sagt Rob Hilster, 55 Jahre, der mit zwei Kollegen vom Ingenieurs Bureau Amsterdam die Bauaufsicht beim Projekt Ijburg hat. Hilster zeigt auf eine inzwischen achtzig Hektar große Sandfläche, wo sich vor Monaten noch die Segler tummelten. „Ijburg ist eine große Herausforderung, nicht nur der neuen Technik wegen, sondern auch durch die strengen Umweltauflagen.“

Die Niederlande expandieren mal wieder – diesmal nicht unter, sondern über dem Meeresspiegel. Auf einer Fläche von 420 Hektar Land, das bis zum Jahr 2009 dem Ijmeer abgerungen wird, baut Amsterdam etwa 18.000 Wohnungen für 45.000 Menschen. Geplant sind weiter drei Einkaufszentren, Krankenhaus- und Sozialstationen, zwei Brücken und eine Straßenbahnlinie ins Zentrum. Keine Schlafstadt vom Reißbrett soll es werden, wie etwa Almere im eingepolderten Flevoland. Ijburg soll vielfältig und bunt wie Amsterdam sein: Jede der sechs Inseln möge nach dem Willen der Stadtplaner eigenen Charakter haben.

So erhält Haveneiland, wo nach bisherigen Planungen die ersten Bewohner schon 2001 einziehen können, trotz vielen Grüns einen dezidiert städtischen Anstrich: mit dichter Bebauung, mehrstöckigen Wohnblocks, Bootsanlegestellen, Boulevards und Kneipen. Apartments am Wasser, aber auch großzügige Villen am Deich oder im Schilf sind auf den Rieteilanden, auf Buiteneiland und Strandeiland vorgesehen. Steigereiland, das zum Teil auf Plattformen und Pfählen errichtet wird, bietet Architekten Raum für Experimente: „Wohnen auf dem Wasser“ hat in Amsterdam Tradition, und die soll in Ijburg ihre Fortsetzung finden: Hunderte Wohnschiffe und Pfahlbauten werden Steigereiland ab 2003 prägen.

Warum treibt Amsterdam ein solch ambitioniertes Neubauprogramm voran, wo doch die Hauptstadtbevölkerung kaum noch wächst? Und warum – trotz erwartbaren Widerstands umweltbewegter Niederländer – ausgerechnet im Ijmeer, einem ausgewiesenen Vogelschutzgebiet? Weil es nach wie vor viele Wohnungsuchende in Amsterdam gebe, behauptet die Stadtverwaltung. Weil die „grünen Lungen“ Amsterdams, die sich wie fünf Finger einer Hand von der Peripherie ins Zentrum erstrecken, unbedingt erhalten bleiben müssten, meint das Umweltamt. Weil Gebiete nördlich der Stadt landschaftlich und kulturhistorisch zu bedeutsam seien und weil weiteres Bauen in den benachbarten Poldern nur mehr Pendler und damit Staus verursachen würde, so die Stadtplaner.

„Alles nur vorgeschobene Argumente“, meint Vera Dalm, Mitarbeiterin des niederländischen Umweltverbandes Stichting Natuur en Milieu“ in Utrecht. „Die Sorge um die Umwelt hat sich die Ijburg-Lobby doch nur auf die Fahnen geschrieben, um Gegnern des Projekts den Wind aus den Segeln zu nehmen.“ Im Grunde handele es sich beim Ijmeerwasser schlicht um billiges Bauland, um ein „weißes“ Gebiet, das ohne zeitfressende und kostspielige Enteignungsverfahren zu haben war. „Nach Expertisen, die wir von unabhängiger Seite haben anfertigen lassen, gibt es Wohnungsnot doch gar nicht“, so Vera Dalm. Die Nachfrage vieler Ijburg-Aspiranten vor allem nach Eigentumswohnungen der gehobenen Preisklasse sei kein Zeichen eines Mangels an Wohnraum, sondern Ausdruck zunehmenden Wohlstands doppelt verdienender Familien und Amsterdamer Singles. Und die niedrigen Hypothekenzinsen verstärkten noch den Bedarf.

Mehr als 12.000 Interessenten haben sich schon jetzt für eine Wohnung, ein Haus oder ein Grundstück in Ijburg vormerken lassen. „In Ijburg ist für alle was dabei“, lautet der Slogan. Die Kaufpreise liegen, je nach Lage, Größe und Charakter, zwischen 225.000 und 400.000 Mark. Auch die Mietpreise sind entsprechend gestaffelt. Auf jeder Insel soll es eine Mischung von billigem und teurem Wohnraum geben. „Ijburg ist die optimale Lösung für Leute, die seit langer Zeit in der Stadt keine geeignete Wohnung finden, Amsterdam aber ihrer Jobs und der Lebensqualität wegen nicht verlassen wollen“, sagt Corné de Jong. Der flotte Mittdreißiger ist beim Projektbureau Ijburg angestellt, jener fünfzig Mitarbeiter zählenden Truppe, die die Belange der an Ijburg beteiligten Konsortien nach außen vertritt, potenziellen Käufern und Mietern das Wohnen in Ijburg schmackhaft macht und notorischen Umweltnörglern verständnisvoll entgegenhält, die Stadt kompensiere den Umweltfrevel mit der Schaffung von Ersatznatur. „Zu Beginn gab es massiven Widerstand“, erzählt de Jong. „Aber wir haben uns mit Projektentwicklern und Umweltverbänden an einen Tisch gesetzt.“

Herausgekommen ist nun ein Tauschgeschäft, wie es die auf Konsens bedachten Holländer oft auszuhandeln pflegen. Vorausgegangen war ein Referendum, bei dem die Ijburg-Lobby im März 1997 ihren Gegnern zwar unterlegen war, das Ergebnis aber mangels Bürgerbeteiligung von Staats wegen als reine Meinungsäußerung verbuchen durfte. Der starke Gegenwind jedoch hatte dazu geführt, dass mit den Arbeiten erst begonnen werden konnte, als die Stadt Amsterdam den Kritikern Zugeständnisse gemacht hatte: Mit einem Etat von 15 Millionen Mark wollen die beteiligten Provinzen und die Stadt Amsterdam elf Naturentwicklungsprojekte fördern. Motto: Wo die Natur nicht so ist, wie wir sie brauchen, machen wir sie eben passend.

Etwa beim Projekt „Waterlandse kust“. Weil durch die Landgewinnung für Wasservögel überlebenswichtige, untiefe Gebiete im südlichen Ijmeer verloren gehen, will man deren Ökosystem kurzerhand kopieren: Das an den Ufern weiter nördlich tiefere Ijmeer wird aufgeschüttet, der rauere Seegang durch Dämme gezähmt. Ergebnis: Muscheln satt für die hungrigen Ijmeer-Enten. „Renaturiert“ wird auch der Diemerzeedijk, ein Deich, der im 13. Jahrhundert gebaut wurde, um Amsterdam vor der wilden Zuiderzee zu schützen. Dieser Landstrich ist eines der am schlimmsten verseuchten Gebiete der Niederlande; bis 1966 deponierte Amsterdam hier Bauschutt und Abfälle der chemischen Industrie. Ende kommenden Jahres werden Experten die Zeitbombe „verpacken“ – mittels undurchlässiger Stahlwände, die zwanzig Meter in den Boden versenkt werden, um das verseuchte Areal von der Außenwelt abzuschließen. Anschließend wird begrünt – und fertig ist der neue Vondelpark.

Hollands Ökobewegung hat somit die „Schlacht um Ijburg“ verloren. Für Geertje Offerhaus, Direktorin des Amsterdamer Milieucentrum, ist das Projekt eine einzige Enttäuschung. „Natur lässt sich nicht kompensieren, ökologisch ohnehin nicht, aber auch nicht mit Geld. In jede Muschel eine Million zu investieren ist absurd. Und ein Areal zu verseuchen und anschließend zu einem Stadtpark umzufunktionieren – wird da nicht die Natur erneut vergewaltigt?“

Vera Dalm von der „Stichting Natuur en Milieu“ befürchtet sogar, dass die Ijburg-Planer nicht mal die vereinbarten Umweltstandards für die Wohnkerne, etwa autofreie Zonen, einhalten werden. Resigniert stellt sie fest, dass die Umweltverbände es nicht vermocht haben, die Holländer für die Erhaltung des Ijmeeres zu mobilisieren. „Wären Bäume bedroht gewesen, die Leute hätten empört Widerstand geleistet“, sagt Vera Dalm. „Aber Wasser hat in Holland traditionell eine ganz andere Bedeutung. Da gilt die einende Maxime: 'Brauchen wir Land, machen wir Land. Schließlich haben wir halb Holland so gebaut.‘ “

Rob Hilster macht gern Land. Und freut sich, es zu zeigen. „Dort, wo die Straßenbahn wenden wird, fehlen noch anderthalb Meter Sand“, erklärt der Mann, der in einer roten Regenjacke den Ijburgboulevard hinunterspaziert und hie und da einem Baggerfahrer Anweisungen gibt. Noch hinterlässt auf Haveneiland jeder Schritt tiefe Spuren im Sand. „Die letzte von sechs Schichten, die wir hier auftragen, bringt das Land auf anderthalb Meter über dem Wasserspiegel.“

An grauen Betonstelen vorbei, die westlich von Haveneiland wenige Meter aus dem seichten Wasser ragen, steuert Rob Hilster die „Ijburg 2“ zum Festland zurück. Es sind Pfeiler, die in zwanzig Meter Tiefe verankert sind und die „Brücke 2001“ nach Amsterdam tragen werden. „An manchen Stellen verläuft hier eine tiefe Furche, die in der Eiszeit entstanden ist und voller Schlamm steckt. Das wäre ein zu weicher Untergrund für eine Brücke. Da muss man ein wenig nachhelfen“, sagt Hilster, während er sein Dienstschiff etwas beidreht, um eine Möwe an Bord zu holen, die kopfüber im Wasser mit dem Tode ringt. Das Tier hat sich offenbar beim Fischen in eine Angelschnur verhakt.

Nachdem er die verstörte Möwe erlöst hat, verflucht Rob Hilster leise den Angler, der ohne Rücksicht auf deren Schicksal seine Schnur durchschnitten habe. Da beklagt der Mann, der der Tierwelt Tag für Tag mit schwerstem Material auf den Pelz rückt, mangelnden Respekt vor der Natur.

Henk Raijer, 45, lebt in Berlin und Warschau und ist taz-Tagesthemenredakteur. Er berichtet hier im taz.mag regelmäßig über die Niederlande, zuletzt über die aktuelle Debatte zur Sterbehilfe