Die Schönheit am Schnittpunkt der Zeit

Die Südseeinseln liegen an der Datumsgrenze. Fidschi ist als Erste im Jahr 2000, Samoa als Letzte  ■   Von Hans-Christof Wächter

Warum sie alle unbedingt die Ersten im nächsten Jahrtausend sein wollen – mir schleierhaft. So schlimm ist unser altes doch gar nicht, oder? Ich jedenfalls würde es gut noch eine Weile aushalten.“ Bernadette Genilau schüttelt amüsiert den Kopf und lacht. Wir stehen im Garten des „Tavelodge“, Suvas erste Hoteladresse, und schauen zwischen blühenden Hibiskushecken und hohen Kokospalmen über die sonnenglitzernden Wasser der weiten Harbour-Bay auf die grünrollenden Hügel am jenseitigen Ufer. Keine Frage, das friedliche, tropisch heitere Fidschi im südlichen Pazifik scheint zuallerletzt geeignet als Kulisse endzeitlicher Jahrtausendkrisen.

Dass zwischen Mitte Dezember 1999 und Anfang Januar 2000 im Südseestaat Fidschi kaum mehr ein ungebuchtes Hotelbett zu finden ist, hat dennoch nur marginal mit den unvergleichlichen landschaftlichen Reizen der 360 Inseln zu tun. Nicht anders im Nachbarland Tonga, in Kiribati oben am Äquator oder auf den neuseeländischen Chatham Islands im Süden. Sie alle spekulieren darauf, von ihrem geografischen Privileg profitieren zu können, die Ersten links der Datumsgrenze zu sein; jener imaginären, magischen Linie entlang des 180. Meridians (mit international verordnetem Rechts-Knick unterhalb des Äquators), an der die Welt je nach Standpunkt in gestern und heute geschieden wird – oder in heute und morgen. Das Fiji Visitors Bureau wirbt mit dem Slogan: „The place where each new day begins“. Das Nachbarland macht's noch einen Schlag großartiger: „Tonga 2000, where time begins“. Ob da oder dort, unstreitbar wird das neue Jahrtausend in diesen Zonen zuerst heraufdämmern. Als ein Tag wie jeder andere, hoffen wir Nicht-Apokalyptiker. Und lassen dahingestellt, ob es wirklich der 1. 1. 2000 oder nicht doch richtiger der 1. 1. 2001 sei, an dem das dritte Millennium beginnt.

Jetzt rollt der Millennium-Boom

Darüber macht man sich in Fidschi, Tonga, Kribati und Neuseeland zu allerletzt Gedanken. Der Millennium-Boom rollt jetzt. Ihn anzukurbeln und international zu vermarkten, die Touristenströme samt Dollarsegen in die Südsee zu leiten und dort halbwegs gerecht zu verteilen, hatten die beteiligten Inselstaaten 1996 ein überregionales „South Pacific Millennium Consortium“ gegründet, Koordinatorin ist die fidschianische Journalistin Bernadette Genilau. Deshalb war ihr Amüsement über das Gerangel um die Logenplätze beim Jahrtausend-Silvester rein privat und „strictly off the records“. Inzwischen kann sie freier reden. Das Konsortium erwies sich als Flop. Zu groß waren die nationalen Rivalitäten, die Befürchtungen, der Nachbar könne ein größeres Stück vom touristischen Kuchen abbekommen.

Und seitdem werkelt jedes Ländchen wieder am eigenen „Calendar of Events“ für das einmalige Ereignis. Mit teilweise so skurrilen wie überdimensionierten Projekten, dass sie das Entwurfsstadium kaum überlebt haben. Von dem Plan, quer durch Fidschi, dem Verlauf des 180. Längengrads folgend, einen kilometerlangen Millennium-Graben auszuheben, eingefasst von einer Steinmauer, in die „Zeit-Kapseln“ mit Botschaften zahlender Interessenten an die Nachwelt eingelassen werden sollten, hat man sich mangels Nachfrage und Machbarkeit schnell wieder verabschiedet.

Im Endspurt, vor den anderen Finalisten der Allererste im nächsten Jahrtausend zu sein, haben sich die Beteiligten die absonderlichsten Finessen und Tricks einfallen lassen: So will Tonga zwischen November und Januar die Sommerzeit einführen, mithin die Uhren um eine Stunde vorstellen, Kiribati hat die längs durch den Wasserflächenstaat verlaufende Datumsgrenze per Dekret in einer riesigen Beule nach Osten ausgeweitet und dadurch das flugs in Millenium Island umgetaufte unbewohnte Inselchen Caroline zur ersten Insel der Welt promoviert – und Fidschi schließlich wirbt zwar lautstark damit, dass der 180. Längengrad drei seiner Inseln durchschneide, macht jedoch wenig Wesens darum, dass Meridian und Datumsgrenze hier nicht mehr deckungsgleich verlaufen.

An diesem einfallsreichen Finassieren kann und muss sich Samoa nicht beteiligen. Der Archipel knapp rechts neben der Datumsgrenze ist, wie sie selbstironisch dort sagen, „the last place to go“, die allerletzte Möglichkeit, das Aufscheinen des neuen Jahrtausends zu erleben – oder am längsten in der guten alten Zeit zu verweilen: Kap Mulinu'u gilt als der Ort, an dem die Sonne wie an jedem so auch am Jahrtausend-Abend zu allerletzt ins Meer sinkt.

Ein weltenferner Ort von unberührter Schönheit am Rand der Zeit; ein magischer Ort zwischen hier und dort, von Legenden überwoben; ein melancholischer Ort, wie geschaffen für stille Abschiede. Die aufregende Fahrt zu den schwarzen Klippen von Kap Mulinu'u an der Westspitze Savai'is hat in der Tat etwas von einer Reise ans Ende der Welt. Oder zurück ins Paradies. Savai'i, Samoas größte, wenn auch nicht die Hauptinsel – das ist Upolu mit dem Regierungssitz Apia und dem internationalen Flughafen – bietet für den Weg zum „last sunset of the century“ gleich zwei Routen, die einander an landschaftlichem Dauerreiz zu überbieten suchen.

Der Reisende wird, mit der Fähre von Upolu übersetzend (tunlichst im Unabhängigkeit garantierenden Mietwagen), bei Salelologa im Osten von Savai'i ankommen und sich für eine der beiden Küstenstraßen nach Westen entscheiden. Wir wählen die längere (105 Kilometer) North Coast Road. Zwischen Kokoshainen und Pflanzgärten reiht sich Dorf an Dorf, eins schmucker als das andere, alle nach demselben in Generationen gewachsenen Masterplan angelegt: Die luftigen ovalen Häuser aus Pfählen und hochgewölbtem Reetdach auf ihrem Sockel runder Lavasteine, dazwischen weite, penibel gepflegte Rasenflächen, pro Dörfchen mindestens zwei überdimensionierte, strahlend weiße Kirchen in unbekümmerter Melange sämtlicher europäischer Baustile, ein zentraler Fest- und Sportplatz, am Strand ein ummauerter Süßwasserpool. Und überbordend blühende Bäume, Sträucher, Hecken allüberall.

Jedes Paradies hat seine Schlange

So schlängelt sich die Straße anmutig am Meer entlang. Zur Rechten zwischen Palmen und Mangrovendickicht immer wieder unvermutete Ausblicke auf weißen Strand und türkisgrün-jadeblaue Lagune, umschlossen von der weißen Schaumwand über dem Riff. – Und plötzlich hackt das Bild ab. Als habe man vom einen Programm in ein anderes gezappt. Unvermittelt weitet sich das Panorama ins Cinemascope-Format. Kein Wald, kein einziger Baum verbirgt mehr den Blick auf die ferne Kette der Vulkankegel zur Linken, auf den Ozean zur Rechten. Als helles Band zieht sich die Straße über eine hitzeflirrende schwarze Ebene, schrundig verkrustet, in erstarrten Windungen und Strudeln bewegungslos zum Meer hinabströmend. Hineingetupft in die düster glitzernde Steinwüste erstes zaghaftes Grün, aus jähen Spalten und tiefen Brüchen emporschießend. Die Lava Fields von Saleaula.

Mata ole afi, das Auge des Feuers, nennen die Samoaner Mount Matavanu, der 1905 ausbrach und über sechs Jahre lang einen nicht abreißenden Strom glühender Lava zur Küste fließen ließ, bis zu sieben Kilometer breit, bis zu 150 Meter hoch, Plantagen, Brücken, Straßen und Dörfer unter toter Mondlandschaft begrabend.

Jedes Paradies hat seine Schlange. Die samoanische heißt „Hurricane“. Vulkaneruptionen sind selten (der letzte zerstörerische Ausbruch vor 1905 ereignete sich 1760), Wirbelstürme aber können alljährlich ins Haus stehen. 1990 raste „Ofa“, ein Jahrhundertsturm, mit 250 Stundenkilometern aus der Weite des Pazifik und machte Savai'i platt. Als man gerade in die Gänge gekommen war, die Schäden zu beseitigen, wütete im Jahr darauf „Val“, „der schlimmste Sturm seit Menschengedenken“, fünf Tage über der Insel und gab ihr den Rest. Die Folgen sind noch immer allerorten zu sehen. Die Natur hat sich von den Desastern längst erholt. Beton aber wächst nicht nach. Je weiter der Reisende nach Westen vordringt, desto zahlreicher werden die pittoresken, von Schlingpflanzen überwucherten Kirchenruinen, Markierungspunkte aufgegebener Dörfer.

Kap Mulinu'u, das Ziel. Far West. Land's End. Eine Speerspitze ins Morgen. Ozean bis zum Horizont. Ein Ort am Rand der Zeit, am Ende der Welt. „Jenseits dieser Stelle werden Drachen hausen“, hätten die alten Weltentdecker gesagt. Ein magischer Ort. Du spürst es unmittelbar, wenn du, gerade angekommen, über den knirschenden Korallenschutt zum Wassersaum gehst: Hier sind nicht nur wir unterwegs. Sondern die anderen auch. Von wem stammen die Fußspuren neben deinen im Sand – Dabei ein ganz und gar unspektakulärer Ort, trotz aller tropischer Pracht. Ein Ort von stiller Schönheit jedenfalls, der nichts von sich hermacht. Sandwege, Palmen und Busch, weißer Strand, von Muscheln übersät. Gezeitentümpel, in denen neonbunte Korallenfische flitzen. Und schwarze, aufgestauchte, hochgefaltete, ins Meer ragende Lavaklippen, von einem tiefen Riss wie mit dem Lineal gespalten.

Das ist der Weg der Geister, der Toten von Savai'i und Upolu. Nächtens treffen sie sich hier, am Eingang zur Unterwelt, Pulotu, durch den alle Seelen gehen müssen. Das wissen sie bis heute auf Samoa Methodisten, Katholiken, Mormonen und alle anderen. Noch immer zum Glück.

Ein sanfter warmer Regen fällt. Unter Palmdächern sitzen die Reisenden mit Muschelsammlerinnen aus dem Dorf. Träge tröpfelt das Gespräch. Von Geistern und Menschen. Die Hunde strecken sich und gähnen. Wir schauen über das bleigraue Meer und die schwarzen Klippen, auf die aus weißen Steinbrocken Buchstabenbotschaften gelegt sind. An die Verstorbenen, für die Liebste? Wassersatt und dunkelrund zieht die Regenfront hinaus aufs Meer. Orangerot bläht sich die Sonne, bereitet sich auf das allabendliche Abschiedsfarbspektakel vor. Dort drüben im Westen ist morgen. Und – bald – ein neues Jahrtausend. Ist das wichtig? Nicht hier, nicht jetzt.