Radikal bin ich nicht, aber unabhängig“

■  Auch die wunderbarste Literatur kann die Menschen nicht bessern, meint Toni Morrison. Dennoch haben Schriftsteller für sie immer noch Macht. Und dann ist die Literaturnobelpreisträgerin noch stolz darauf, dass die große Jessye Norman Songtexte von ihr singen will

Toni Morrison, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 1993, möchte über Literatur reden, nicht über Rassenfragen. Sie will weder „die schwarze Stimme Amerikas“ genannt noch zur „Ehrenweißen“ befördert werden. Und sie hat es reichlich satt, von der Öffentlichkeit als Soziologin missbraucht zu werden.

In ihrem neuen Roman, „Paradies“, dem ersten, den sie seit der Verleihung des Nobelpreises geschrieben hat, schildert sie eine Gemeinschaft von Schwarzen, die in den späten Vierzigern das Dorf Ruby in Oklahoma aufgebaut hat. Die Gründerväter des Dorfes lehnen alle Menschen ab, die eine hellere Hautfarbe haben als sie. Das Paradies, das diese Männer sich in Ruby erschaffen haben und gegen jede Störung von außen verteidigen, wird von den Frauen und Jugendlichen des Dorfes zunehmend in Frage gestellt.

taz: Günter Grass, der diesjährige Literaturnobelpreisträger, und Sie haben nicht nur den Preis gemeinsam. Sie gelten beide in Ihren jeweiligen Ländern als Gewissen der Nation.

Toni Morrison: Was? Das wäre schön! Ich wünschte, ich wäre das. Mag sein, dass ich es bin. Allerdings scheint niemand dafür zu bezahlen.

Hat Ihnen der Nobelpreis denn nicht mehr politischen Einfluss gegeben? Hört man seither nicht mehr auf Sie und das, was Sie zu sagen haben?

Ich habe immer schon gesagt, was ich zu sagen hatte, aber früher hatte niemand Interesse daran. Jetzt wird es immerhin gedruckt. Ich war immer so etwas wie eine Grenzgängerin. Man hat mich heftig kritisiert, weil ich mich den aktuellen Strömungen nicht angepasst habe. Als die schwarze Bürgerrechtsbewegung gerade ihren Höhepunkt erreichte und „Black is beautiful“ predigte, schrieb ich „Sehr blaue Augen“ – ein Buch über eine Schwarze, die die weißen Schönheitsideale übernimmt und sich damit selbst zerstört. Dieses Buch wurde damals völlig abgelehnt, auch in der schwarzen Presse. Da ich mich sehr auf meine Arbeit und meine Ansichten konzentriere, weiß ich manchmal gar nicht, was zur Zeit politisch diskutiert wird. Ich bin nicht radikal, ich bin nur eine unabhängige Denkerin. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich Einfluss habe.

Der Punkt ist doch, dass wunderbare Kunst, wunderbare Musik und wunderbare Literatur Tag für Tag von den schlimmsten Leuten konsumiert werden. Aber sie werden ihre Bosheit und ihre Grausamkeit nicht ablegen, nur weil sie gerade „Schuld und Sühne“ gelesen haben.

Das klingt pessimistisch.

Das ist es auch ein bisschen. Trotzdem denke ich, dass die Arbeit der Schriftsteller sehr wichtig ist. Sie sind die ersten, die verbannt werden, die umgebracht werden, deren Arbeiten exkommuniziert werden. Das bedeutet, dass sie irgendwas für eine Gewaltherrschaft gefährlich macht. Es beweist, dass sie mächtig sind, dass Literatur Macht hat.

Auch in den USA?

In den Vereinigten Staaten gibt es eine intellektuelle Schicht, die geradezu paranoid ist. Komitees suchen die Bücher in den Schulen und Bibliotheken nach bestimmten Stellen ab. Ein kleines Wort genügt, und das Buch fliegt raus. Mein Buch, „Sehr blaue Augen“, ist in den Schulen der Vereinigten Staaten verboten worden. Ich selbst habe in der Schule kaum ein Buch vollständig gelesen. Große Teile von Shakespeare waren einfach gestrichen, erst an der Universität habe ich Shakespeare vollständig gelesen.

Typisch amerikanischer Puritanismus.

Wirklich? Sie meinen wahrscheinlich im Vergleich zu Europa. Aber es gibt ja auch Länder im Mittleren Osten, wo man bei Büchern keinen Spaß versteht – sonst hätte es den Fall Salman Rushdie schließlich nicht gegeben. Dort weiß man ganz genau, was zugänglich sein darf und was nicht. Ich bin katholisch, und die Katholiken wussten das auch immer sehr genau.

Was bedeutet Religion für Sie?

Die Institution an sich bedeutet mir nichts. Aber ein Teil von mir sehnt sich nach der Wärme, nach den Ritualen, der Sühne und den magischen Traditionen. Afroamerikanische Leser haben mir oft vorgeworfen, ich hätte bislang einen wichtigen Teil ihres Lebens ignoriert, weil ich nie über Religion geschrieben habe. In Meinungsumfragen haben 96 Prozent der Afroamerikaner auf die Frage, ob sie an Gott glauben, mit Ja geantwortet. Der Vorwurf war also durchaus berechtigt. Für mich hat Religion in meinem Werk aber bislang keine zentrale Rolle gespielt, weil ich nicht gern über abgeschlossene Themen schreibe, über die man nicht debattieren kann. Damals dachte ich, man sei entweder religiös oder nicht.

In Ihrem neuen Roman „Paradies“ sind Priester und Predigten für die schwarze Gemeinschaft des Dorfes Ruby sehr wichtig. Und auf der anderen Seite gibt es die Frauen, die eher die magischen Traditionen verkörpern.

Als ich anfing, über „Paradies“ nachzudenken, wurde mir klar, dass die Schwarzen vor allem deswegen in der Lage waren, ihre Städte aufzubauen, weil sie völlig auf Gott vertrauten. Sie waren absolut überzeugt davon, dass ER auf ihrer Seite war und ihnen den Weg wies. Über solche Leute kann ich nicht schreiben, ohne darüber zu schreiben, woran sie glauben. Und ich wollte überzeugend schreiben, nicht verschlagen, nicht satirisch, nicht ironisch. Ich wollte sie wirklich verstehen.

Als ich dieser Gruppe die Frauen im Kloster gegenüberstellen konnte, die Katholiken, und dazu noch eine dritte Religion, hatte ich den Konflikt, den ich immer wollte. Denn die dritte Religion ist eine nicht institutionelle Form von Religiosität, die ganz entfernt an das brasilianische Candomblé erinnert. Es ist eine nach vorne gerichtete Religion, ganz anders als die anderen, die von der Vergangenheit gelähmt sind.

Die Vergangenheit spielt für die Schwarzen, die Ruby aufgebaut haben, eine wichtige Rolle.

Ja, das ist die Konsequenz aus all den Zurückweisungen, die ihnen widerfahren sind. Wie die meisten von uns empfinden auch sie die Möglichkeit, andere zurückzuweisen, als höchste Form der Macht, die sie erreichen können. Sie erzählen wunderbare Geschichten über sich, Ursprungsmythen: Wie wundervoll sie sind, wie schön, gut, rechtschaffen und rein. Ihr Blut ist rein, sie haben sich nie gemischt. Diese Art von geschichtlicher Überlieferung verträgt keine Veränderungen. Als die jungen Leute sagen, dass sie anders darüber denken, werden sie wütend.

Neben den stolzen Einwohnern von Ruby gibt es auf der anderen Seite die Frauen im Kloster, die geschlagen und missbraucht wurden, die überhaupt keinen Stolz haben. Nur eine von ihnen, Connie, sagt: „Ich wünschte, dass diese Frauen endlich aufstehen und herausfinden, was sie selbst wollen.“ Ist das Toni Morrison, die da spricht? Würden Sie das gern den Frauen sagen, die immer über ihr Leben jammern?

Es gibt eine ganze Menge wichtiger Dinge, die ich anderen Menschen sagen möchte. Aber es ist natürlich immer schwer, das für sich selbst umzusetzen. Ich denke, früher war ich schlimmer. Ich war sehr ungeduldig Frauen gegenüber, die sich alles gefallen ließen, die immer wieder dieselben Dummheiten begingen. Lange schien es für Frauen das Schlimmste zu sein, allein zu sein. Sie hätten alles getan, um IHN zu halten. Sie haben sich nur über den Mann definiert. Ich habe diese Art Frauen, die ich in dem Buch beschreibe, fast verachtet. Jetzt kann ich mich besser einfühlen und würde ihnen einfach zuhören.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie beginnen, ein neues Buch zu schreiben?

Viel von dem, was ich schreibe, ist beinahe übernatürlich. Denn ich kann bestimmte Dinge nicht herausfinden, wenn ich mich nicht öffne, um mich in das Unmögliche hineinzudenken – wie zum Beispiel in „Menschenkind“. Aber das gelingt mir nur, wenn ich mich auf Fakten stützen kann. Ich schaue mir die Landkarten an, studiere Fahrpläne, um herauszufinden, ob man einen bestimmten Ort wirklich in 35 Minunten erreichen kann. Auch das Wetter war wirklich so: Es gab 1949 tatsächlich Tornados.

Warum sind Ihnen die Fakten so wichtig?

Ich brauche das Reale, um surreal werden zu können. Ich liebe Recherche. Ich sitze gern in Bibliotheken und lese Lexika, zum Beispiel das Oxford English Dictionary. Aber ich brauche ein Ziel, sonst wäre meine Recherche desorganisiert, und ich würde nie schreiben. Daher skizziere ich zunächst meine Geschichte. Ich versuche herauszufinden, was für eine Art von Figuren ich brauche, um sie zu entwickeln. Wenn mir das klar ist, beginne ich mit der Recherche. Denn ich möchte nicht, dass die Recherche das Buch vorantreibt. Das Buch soll bestimmen, welche und wie viel Recherche es braucht.

Versuchen Sie sich durch Schreiben klarer über Dinge zu werden?

Wenn ich zu etwas eine festgefügte Meinung habe, ist das für mich kein Material für ein Buch. Normalerweise schreibe ich über Dinge, die ich nicht verstehe. Ich frage mich, wie fühlt sich das an? Gibt es daran etwas, das ich heute oder in der Zukunft noch anwenden kann? Denn obwohl die meisten meiner Bücher in der Vergangenheit beginnen und meist auch in der Vergangenheit enden, enthalten sie, glaube ich, sehr viele zeitgenössische Gedanken.

Sie schreiben sehr rhythmisch, ihre Sprache ist sehr musikalisch – nicht nur in Ihrem Buch „Jazz“. Was bedeutet Musik für Sie?

In „Jazz“ habe ich versucht, die kulturelle Bedeutung des Jazz in den Mittelpunkt zu stellen. Ich wollte den Text so aufbauen wie diese Musik, ohne das Wort je im Buch zu verwenden. Aber ich bin selbst nicht musikalisch, obwohl ich aus einer Familie stamme, die sehr musikalisch war. Sie sangen ständig und spielten Instrumente, ohne dass sie je Unterricht gehabt hätten. Meine Schwester und ich waren nie so talentiert, aber ich höre die Musik. Ich suche nicht nach Musik, wenn ich schreibe. Ich möchte in meinen Büchern einen mündlichen Klang haben, einen Rhythmus. Daher korrigiere, redigiere und verbessere ich viel, bis ich das erreicht habe. Damit es gesprochen werden kann.

Schreiben Sie denn auch Lyrik?

Ja, ich habe viel Lyrik geschrieben, für mich. Und ich habe Songtexte geschrieben, unter anderem für Jessye Norman. Sie hat sie noch nicht aufgenommen, wird sie aber bald in einem Konzert singen. Ich finde das wundervoll, ich bin sehr stolz auf mich.

Interview: Diemut Roether
‚/B‘ Die Bücher von Toni Morrison erscheinen im Rowohlt-Verlag