In Wahrheit riss Reagan die Mauer ein

Der „antifaschistische Schutzwall“ fiel unter dem Ansturm ostdeutscher Demonstranten? Irrtum. In den USA sind sich viele Politiker einig: Die Freiheit für den Osten war ihre Erfindung  ■   Aus Washington Peter Tautfest

Unzufrieden blätterte Ronald Reagan auf der Fahrt zur Mauer im Redeskript. Die Schreiber hatten auf Anraten des State Departments Kürzungen und Änderungen vorgenommen. Vor allem sein Schlüsselsatz wurde gestrichen.

Reagan aber wollte etwas Großes, etwas Bewegendes sagen. Etwas, das die Welt aufhorchen lässt. Er beschloss, bei seiner ursprünglichen Formulierung zu bleiben. Am 12. Juni 1987 ruft er in seiner Rede vor dem Brandenburger Tor über die Mauer: „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!“

Seine Worte fanden Eingang in einen Band großer amerikanischer Reden dieses Jahrhunderts. War mit diesem Ruf der Sprengsatz gelegt, der zwei Jahre später zum Fall der Mauer führen sollte? Welchen Anteil hatte Amerikas Außenpolitik, hatten einzelne amerikanische Politiker am Fall der Mauer?

Charles Maier, Historiker an der Harvard-Universität und Buchautor („Dissolution: The Crisis of Communism and the End of East Germany“, 1999) war damals gerade in Potsdam. „Ich habe die Rede im Fernsehen gesehen“, erinnert er sich. „Mein deutscher Freund hat die Achseln gezuckt: ,falsches Pathos, eher peinlich‘, war seine Reaktion.“

„Ronald Reagen hatte die notwendige Vision“

Reagans umstrittener Biograf Edmund Morris („Dutch – A Memoir of Ronald Reagan“, 1999) scheint ihm Recht zu geben: „Reagan deklamiert. Er gibt sich große Mühe, zornig auszusehen, gelingen tut ihm bestenfalls der Ausdruck milden Ärgers. Das Ganze ist zu sehr inszeniert, die Zuhörerschaft zu klein, als dass hier großes Drama hätte entstehen können. Was für eine verpasste rhetorische Gelegenheit.“

„Wir täuschen uns über Wirkung und Widerhall der Worte Reagans im Osten“, kommentiert Stephen Szabo, Dekan der Washingtoner School of Advanced International Studies an der Johns-Hopkins-Universität, der auch ein Buch über die Wiedervereinigung geschrieben hat („The Diplomacy of German Reunification“, 1994). „Reagans Metapher von der Sowjetunion als dem Reich des Bösen hat im Osten stärker gewirkt, als westliche Intellektuelle glaubten, die sich über das Bild eher amüsierten.“

Vor ein paar Wochen weihte James Baker, damals Außenminister, ein Stück in Washington aufgestellte Berliner Mauer ein. „Ich war gerade bei einem Essen zu Ehren der philippinischen Präsidentin Corazon Aquino, als ich die Nachricht von der Maueröffnung erhielt.“ Die deutsche Teilung hätte zuvor eine deprimierende Aura der Permanenz angenommen. „Sie zu überwinden bedurfte der Vision von jemandem, der sich mit den festgefahrenen Verhältnissen nicht mehr abfinden wollte. Das war Reagan.“

Hört man Leuten wie Baker zu, haben nicht die Deutschen, sondern Reagan und Bush die Mauer eingerissen. „Als ich im April 1987 nach Bonn kam“, erinnert sich Vernon Walters, damals amerikanischer Botschafter in Bonn, „rief ich die Botschaftsangehörigen zusammen und sagte ihnen: Ihr werdet umdenken müssen. Die Wiedervereinigung kommt noch während meiner Amtszeit.“ Baker distanzierte sich von Walters, der daraufhin sein Rücktrittsgesuch einreichte. „Bush hat mir damals geschrieben und mich gebeten, keine Dummheit zu machen, er habe volles Vertrauen zu mir.“

Haben die Amerikaner die Möglichkeit des Mauerfalls und der Wiedervereinigung eher gesehen als die Deutschen? Möglicherweise. Im Oktober 1989 veranstaltete das Center for European Studies an der Harvard-Universität ein Symposion anlässlich des 40. Geburtstages der BRD.

Deutschland hatte sich mit dem Status quo abgefunden

„Die Creme der deutschen Meinungsmacher war da“, erinnert sich Charles Maier. Während wir in Harvard fasziniert die Vorgänge in Polen, Ungarn und Deutschland beobachteten, hatten sich unsere deutschen Gesprächspartner mit der Lage abgefunden. Sie vertrauten darauf, den Status quo managen zu können.“ Walters, der von sich sagt, ihm sei der Untergang des Sowjetimperiums seit dem Abzug der Roten Armee aus Afghanistan klar gewesen, habe die Konsequenz aus den Entwicklungen in Polen und Ungarn zu Ende gedacht, glaubt Stephen Szabo. „Unter Wiedervereinigung hat Walters ein von Gorbatschow diktiertes Arrangement der DDR mit der Bundesrepublik verstanden. Mit dem Fall der Mauer hat niemand gerechnet, auch die Amerikaner nicht.“

Tom Brokaw vom amerikanischen Fernsehsender NBC glaubt, er selbst habe die Mauer am Abend des 9. November geöffnet. Nach den Ereignissen in Prag, Leipzig und Berlin hatte er dramatische Entwicklungen in Berlin vorausgesehen und den NBC davon überzeugt, ihn mit einem Kamerateam nach Deutschland zu schicken. So kam es, dass NBC der einzige ausländische Sender war, der in der historischen Nacht mit Hebebühnen am Brandenburger Tor stand und übertrug. Brokaw glaubt, dass seine Arbeit den Mauerdurchbruch überhaupt erst möglich gemacht hat. Brokaw war nämlich auf jener denkwürdigen Pressekonferenz, auf der Schabowski von der Möglichkeit sprach, bald Anträge zu Ein- und Ausreisen stellen zu können. Brokaw bat Schabowski um Klarstellung: „Heißt das, dass Bürger der DDR durch die Mauer gehen können?“ Schabowski bestätigte in gutem Englisch.

„Das ist doch dummes Zeug“, entrüstet sich David Binder, damals Korrespondent der New York Times in Berlin. Wer sei schon Tom Brokaw? Wer habe in dieser Nacht in Berlin schon NBC gesehen? Das Öffnen der Mauer folgte einer durch die Ereignisse in Leipzig und Berlin ausgelösten Dynamik, auf die weder Brokaw noch sonst ein Amerikaner Einfluss hatte. „Dieses Gerede zeugt nur von der maßlosen Selbstüberschätzung der Amerikaner und ihrer Medienvertreter.“

„Nicht auf die Ereignisse in Deutschland selber, sondern auf die sowjetische Außenpolitik hatten wir Einfluss“, denkt Stephen Szabo. „Wieso wurde Gorbatschow nicht gestürzt?“, fragt er und sieht die Antwort in Reagans Rüstungsprogramm. „In Moskau wusste man, dass die Sowjetunion das Wettrüsten und den Wettlauf der Systeme nicht durchhalten konnte, ja verloren hatte. Es gab zu Gorbatschows Reformpolitik, die letztlich für den Fall der Mauer verantwortlich war, keine Alternative.“ Trotzdem hätte der Fall der Mauer noch in die Katastrophe führen können. „Mit der Idee der Wiedervereinigung haben wir uns zunächst zurückgehalten“, erinnert sich James Baker, „wir wollten die ohnehin instabile Situation nicht zum Umkippen bringen.“ Dann jedoch habe das State Department eine bedeutende Rolle übernommen. „Bushs Diplomaten haben in für diplomatische Unternehmungen ungewöhnlicher Geschwindigkeit zusammen mit der Regierung Kohl die Wiedervereinigung erreicht“, schätzt Szabo ein. Er verweist auf eine Reihe von Untersuchungen, die in Amerika zu den Ereignissen nach dem Mauerfall erschienen sind.

„Das deutsche Management war ein Desaster“

„Ohne Zweifel, der außenpolitische Teil der Wiedervereinigung – der, auf den die Amerikaner Einfluss hatten – war brillant“, so Szabo, „der innenpolitische, von Deutschland gemanagte Teil hingegen war ein Desaster.“

Anders gesagt: Die Mauer wäre letztlich auch so gefallen. Eine Wiedervereinigung aber hätte es ohne die grandiose amerikanische Diplomatie nicht gegeben.