Loch im Herzen, Stein auf der Brust

Was wäre aus diesem oder jenem geworden, wenn die Mauer noch stünde? Aus Thomas Brussig wohl auch ein Schriftsteller – ob ein unveröffentlichter, lässt sich nicht mehr feststellen. Ein Lebenslauf  ■   Von Anke Westphal

„Nie wieder habe ich so viele Manuskripte auf einem Haufen gesehen wie in diesem November 1989. Mein Manuskript wurde ausgewählt.“

Die DDR wäre jetzt fünfzig Jahre alt. Vielleicht hat es die DDR ja auch nie gegeben. Nicht wirklich, jedenfalls nicht so, wie man sie aus historischen Untersuchungen oder Romanen kennt. Heute, am 9. November 1999, wird Thomas Brussig in der Premiere von „Helden wie wir“ sitzen. Der Film entstand nach Motiven von Brussigs zweitem Roman, der zugleich sein erster Bestseller wurde – und ein gesamtdeutscher dazu. Endlich der „heißersehnte Wenderoman“, freute sich die Zeit vor vier Jahren bei Erscheinen des Buchs.

Die Hauptrolle in „Helden wie wir“ spielt das riesige Gemächt des Klaus Uhltzscht. ES, das Ding, bringt den „antifaschistisch-demokratischen Schutzwall“ zum Einsturz. Weniger vom Wahren, aber doch vom Guten und Lustigen können die Leute nicht genug kriegen. „Helden wie wir“ gibt es nicht nur als Buch und Film, sondern auch als Stück für das Theater. Diesen rasenden Erfolg konnte Thomas Brussig mit seinem dritten Buch, „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ betitelt, fortsetzen. Auch die Geschichte des fröhlich im Schatten der Mauer pubertierenden Schülers Micha wurde verfilmt, sogar von Leander Haußmann, und der gilt direkt als Darling der Kritik. Das Leben – ist es keine Baustelle mehr, sondern eine Treppe in den Himmel?

Thomas Brussig, der Ostberliner, hat viel Erfolg. Dieser Erfolg verpflichtet ihn zu öffentlichen Auftritten und stört ihn bei der Arbeit an seinem nächsten Buch. Das gefällt Brussig nicht, aber geduldig versucht er, damit zurechtzukommen. Brussig ist ein freundlicher Mensch, vielleicht sogar zu verständnisvoll. An diesem Herbsttag hat er schon fünf Interviews gegeben, und am nächsten Morgen geht es wieder auf Lesereise. Müde hängt der schmale Mann in der Ecke des großen Ledersofas. Die Lampe leuchtet über ihm wie ein lieber Mond. Man möchte dieser unscheinbaren Berühmtheit der neuen deutschen Literatur ein Kissen reichen.

Brussig ist mit dem „Sonnenallee“-Film nicht ganz glücklich. Die dem Roman eigene Zärtlichkeit und Märchenhaftigkeit hat Haußmann geschrumpft und gegen glatte politische Tendenzen getauscht. Im Film erweist sich Michas bester Kumpel Mario plötzlich als Stasi-Mann. Im Buch ist er einfach nur einer von vielen, die darauf warten, dass die Zeit vergeht, und dabei ihren Spaß suchen. Wer Brussig näher kennenlernen darf, kann seinen Unmut verstehen. Brussig ist ein kluger und gründlicher Mensch. Die Rolle des einfachen Mannes, der nichts herzumachen scheint, dient ihm als Schutz und Schild. Doch das bindet man nicht jedem Dahergelaufenen auf die Nase.

Es hat der Kunst selten zum Vorteil gereicht, wenn sie politische Klischees bediente. Wäre die Mauer niemals gefallen, aus dem Schriftsteller Thomas Brussig wäre dennoch ein Schriftsteller geworden. Ob ein eher unveröffentlichter Schriftsteller, lässt sich nicht mehr feststellen. Die DDR ist für manche nur noch ein Witz, für andere aber eine Lücke zwischen Gestern und Morgen, ein Loch im Herzen oder ein Stein auf der Brust.

Thomas Brussig aus Berlin-Mitte, geboren 1965, hat die Achtzigerjahre „in allen möglichen Jobs“ überwintert, als Möbelträger, Museumspförtner und zum Schluss als Portier im Palast-Hotel. Dort, am Alexanderplatz, habe er sich wohl gefühlt: Die Arbeit sei abwechslungsreich gewesen, das Trinkgeld habe ihn endlich seiner Geldsorgen enthoben, und „ich konnte nebenbei schreiben!“. Das erste Buch, „Wasserfarben“, lag fertig in der Schublade. Pläne für das nächste und vielleicht sogar übernächste waren reine Gehirnakrobatik, als solche aber schön bunt. „Wenn die Texte gut geworden wären“, hätte Brussig auch bei den DDR-Verlagen angeklopft. So hatte das junge Talent Brussig sich das in holder Unschuld gedacht, während das Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staates doch schon nahte.

Letztendlich weiß der jetzige Erfolgsautor dann doch nicht, wie es mit ihm in einer verlängerten DDR weiter gegangen wäre. Fünfzig Jahre DDR und Brussig – wo? Ein Manuskript konnte auf dem Weg durch das DDR-Verlagswesen alt und sein Autor sehr müde und bitter werden. Da gab es die Zensur, nur dass sie den Namen „Hauptverwaltung Verlage“ trug und keine Verbote erteilte, sondern schriftlich begutachtete und Empfehlungen für oder gegen eine Veröffentlichung aussprach. Auch darüber konnten viele Monate vergehen. Dass das Schreiben in der DDR gegenüber der Veröffentlichung Vorrang genoss, muss man als eine Art von Notwehr lesen.

Im November 1989 trug Thomas Brussig das Manuskript von „Wasserfarben“ zum Aufbau-Verlag. Es war eine Zeit, in der die Zensur fiel. „Nie wieder habe ich so viele Manuskripte auf einem Haufen gesehen wie in diesem November 1989“, staunt der schmale Mann. Alle öffneten sie ihre Schubladen und trugen die Verschlussachen der Vorwendejahre und -jahrzehnte zu den Lektoren.

1991 erschien „Wasserfarben“, unter Pseudonym. Brussig fühlte Stolz, dass „ausgerechnet mein Manuskript“ unter Bergen von Papier ausgewählt worden war. Er habe, behauptet er, das Buch zu DDR-Zeiten geschrieben, als wenn es keine Zensur gegeben hätte. Eine Möglichkeit, die von westlichen Kritikern geleugnet wurde, indem sie östlich der Elbe die „Schere im Kopf“ voraussetzten. Nur will die These nicht auf hoch gebildete Friedhofsgärtner oder Fußpflegerinnen passen, denen beim Schreiben gleichgültig sein musste, ob man sie je veröffentlichen würde.

Der Job als Portier im Palast-Hotel überdauerte den 89er Herbst nur um wenige Wochen. Wo er die „historische Nacht des Mauerfalls“ verbracht hat, will Brussig für sich behalten. Das sei zu persönlich. Im Frühjahr 90 begann der Ex-Portier zu studieren, an der „Westberliner“ FU. An einer DDR-Uni wollte Brussig (nach DDR-Kindergarten, Schule und „Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee“) „nicht noch mal vier Jahre den Kopf einziehen und nicht sagen, was ich denke“. Brussigs freie Wahl fiel auf das Fach Soziologie, auch weil er sich eins der großen Welträtsel nicht erklären konnte: „Warum stehen Menschen morgens für Jobs auf, die sie hassen?“ Eine Schelmenfrage – doch es spricht der Autor Brussig und nicht eine seiner Kreaturen.

Zwischen sich selbst, seinen Figuren und seiner Berühmtheit lässt der Mann im Allerweltslook vorsichtshalber ein bisschen Platz. Die Wende füllte Lektürelücken: Gesellschaftstheorien, protestantische Ethik, Psychoanalyse, Strukturalismus. Das eine beeindruckte, das andere amüsierte Brussig eher – und vielen ging es wie ihm. Keine anmaßende Mauer sortierte die Flut an Sein und Schein, und auch Thomas Brussig konnte noch nicht wissen, welches Wissen zu ihm passen würde. 1992 wechselte er von den theoretischen Höhen der Soziologie, „deren Lehrtexte ich manchmal nicht mehr verstand“, und den Gesellschaftstheorien zu deren Dramaturgie und mehr Praxisnähe. Er erzählt, wie er sich an der Filmhochschule Babelsberg bewarb. In seiner Bewerbungsmappe lag der Stoff zu „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“.

Manche Erfolge sind sehr alt.

An der Filmhochschule traf Brussig auch seine Lebensgefährtin Kirstin Ziller. Sein Erfolg als Romanautor, seine Arbeit als Ko-Autor beim „Heimat“-Projekt von Edgar Reitz brachte ungeheuren Stress in beider Leben. Das Telefon klingelt zu oft. Seit „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ in die Läden ging und auch die Verfilmung gut läuft, geben sich die Medien in der Wohnung am Prenzlauer Berg die Klinke in die Hand und wählen doch immer denselben Fotowinkel aus: Unter die Lampe, die sanft wie ein Mond leuchtet, muss Brussig sich immer setzen.

Ziller, die Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin, lacht darüber, stellt den Gästen ein Wasser hin und arbeitet ansonsten daran, ihre erste Inszenierung auf eine gute Bühne zu stellen. Das Stück erzählt DDR-Geschichte aus der Opferperspektive und ist von – Brussig. Zwei Leben treffen sich hinter der Mauer im Unendlichen.

„Geboren worden“, doziert Kirstin Ziller mit feierlichem Grinsen, „bin ich in der Heimatstadt von ,Gold-Kati'“. Sie erlebte, wie Katarina Witt beim „Pokal der blauen Schwerter“ im Schlumpf-Kostüm „ihren Durchbruch feierte“. Zwei Jahre später war die ältere Mitschülerin Gold-Kati Weltmeisterin. Was wäre aus Gold-Kati geworden, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? Dasselbe wie jetzt, behaupten Brussig und Ziller, „eine Art Glamour-Girl“. Witt begann noch in der DDR ein Schauspielstudium, ließ sich an der Hochschule aber kaum sehen. Damals habe alles gelacht – die und Schauspielerin, doch besonders habe Witt die Sprecherziehung genossen, und Ziller weiß, wovon sie spricht.

Kirstin Ziller hatte zu DDR-Zeiten keinen Platz an der Erweiterten Oberschule bekommen, lernte deswegen Physiotherapeutin. Das Abitur machte sie dann „im Westen“. Der Theaterstudienwunsch, den sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte, erfüllte sich. Die zierliche Frau hat an allen großen Häusern gearbeitet, mit Peter Zadek, Kroetz, Jerome Savary und Arie Zinger. Es sieht aus, als wäre die Wende ihren Träumen gut bekommen. Wie es in der DDR mit ihr weiter gegangen wäre, weiß sie genauso wenig wie Thomas Brussig.

Das Spiel ist beliebt: Was wäre aus der oder dem geworden, wenn die Mauer noch stünde?

Der Verlust gewohnter Sicherheiten kann sich als Chance erweisen. Kann. Der Mauerfall bedeutete für manche Leute mehr Raum. „Größere Wohnungen!“, kichert Thomas Brussig und mimt wieder den simple man. „Mehr Raum“ kann, aus weiter Ferne betrachtet, auch ein Witz sein – wie die DDR. Kirstins Karl-Marx-Stadt ist nicht mehr modern, bescheidener Raum auch nicht. Es heißt jetzt Chemnitz. Geschichte ist weder gut noch schlecht, sie ist nur, und auch Brussig & Ziller kaufen Ostprodukte nicht aus Sentimentalität, sondern wegen der besseren Qualität. Spreewälder Gurken und Mühlhausener Pflaumenmus müssen sich mit Demeter-Milch vertragen.

„Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ wurde am 31. August in die Buchhandlungen ausgeliefert und geht jetzt, nach nur zwei Monaten, in die dritte Auflage. Thomas Brussig staunt darüber. Das hat er nicht erwartet. Im Gegenzug muss Thomas Brussig an nahezu jedem Abend eine Lesung halten. Der Austausch scheint fair und greift doch an: Brussig krächzt ein wenig, doch er krächzt gute Nachrichten. „Die Reaktionen auf das Buch sind im Osten und Westen überraschend ähnlich“, sagt er. „In meinen Lesungen ist die deutsche Einheit geglückt.“

Klar, der Osten – das sei „Heimspiel“. Hier wird für das Publikum Leben noch einmal über eine literarische Form ins Recht gesetzt. Die Leute in den neuen Bundesländern nehmen dankbar an, dass „Sonnenallee“ jenes Erinnerungsbild formuliert, „das viele fühlen, aber nicht in Worte fassen können“. Natürlich weicht dieses Erinnerungsbild von der historischen Wahrheit ab. „Das Gegenteil von Erinnern ist nicht Vergessen, sondern Sich-Merken“, schreibt Brussig, der Mahner, in dem Roman.

Und die Leser im Osten, so erzählt er, wollen immer wissen, ob „die im Westen“ das Buch denn überhaupt verstehen und darüber lachen können. Der Westen hingegen frage stets danach, ob „die im Osten“ denn über Brussigs Texteskapaden lachen könnten, „denn so komisch wie im Buch wird das ja wohl damals, in der DDR-Wirklichkeit, alles nicht gewesen sein“. Das lässt für Thomas Brussig nur einen haarscharfen Schluss zu: „Man ist hüben und drüben außerordentlich besorgt umeinander.“