Zehn Jahre Mauerfall: „Es ist so kalt“

■  Am Pariser Platz ist eine Wärmestube für die Upperclass, der DGB betreibt sexuelle Aufklärung, Diepgen tümelt deutsch, 40 Leute legen den Ku'damm lahm, Regine Hildebrandt erklärt die Welt, und alle wollen die Mauer sehen

Jahrestag des Mauerfalls, Zehntausende vor dem Brandenburger Tor, der Bundeskanzler spricht, Udo Lindenberg singt, und wie ist die Stimmung? „So na ja“, gibt unsere Reporterin Annette Rollmann gegen 17.30 Uhr, eine Stunde nach Beginn der Feierlichkeiten, telefonisch durch. „Wenn ich nicht beruflich hier wäre, würde ich wieder gehen. Es ist so kalt.“

Schön sind die bunten Regenschirme, schön der Regenschleier vor der hell erleuchteten Quadriga. Nett anzuschauen auch der Film zum Mauerfall, der auf zwei große Leinwände projiziert wird.Aber Emotionen? Fehlanzeige! Keine Tränen, keine Umarmungen. Erst recht nicht bei denen, die sich ins Hotel Adlon zum Aufwärmen verziehen – in die „Wärmestube der besseren Gesellschaft“, wie unsere Redakteurin findet.

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Auch vorher wurde schon gefeiert und gefroren: Richtfest an der Versöhnungskapelle Bernauer Straße. Eberhard Diepgen, Bischof Huber und Kardinal Sterzinsky reden von Versöhnung, von Opfern der Mauer und singen fromme Lieder. Nur Regine Hildebrandt nicht. Die ehemalige SPD-Sozialministerin von Brandenburg sagt, wie es wirklich war, damals, an der Bernauer Straße. Nein, nicht als dort am 9. November 1989 DDR-Grenzer das Tor zum Westen öffneten. Sondern als sie geschlossen wurden, die Tore zur Versöhnungskirche, die 1985 von der DDR weggesprengt wurde, weil sie die freie Sicht auf den Todesstreifen behinderte.

Hildebrandt geht in die Hocke, kratzt mit einem Kuli den Lageplan der Versöhnungskirche in den Sand. Die Kirche stand auf Ost-gebiet. Aber fast alle Gemeindemitglieder kamen aus dem Wedding. Bis die Kirche eingemauert wurde. Eine Woche lang sei sie noch von der Ostseite über den Friedhof in die Kirche gekommen, sagt Hildebrandt, dann wurde auch dieser Weg versperrt.

Vor fast 15 Jahren, am 22. Januar 1985, hat sie auch die Sprengung der Versöhnungskirche geknipst. In der Mittagspause war sie von ihrer Dienststelle zur Bernauer gefahren. Drei Fotos hat sie gemacht: Eins vom stehenden, eins vom fallenden und eins vom nicht mehr vorhandenen Kirchturm. Und heute? „Die Mauer sollte wieder aufgebaut werden“, sagt sie, und die Leute um sie herum pflichten ihr bei. „Damit die Menschen sehen können, was damals hier los war.“

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Überall ist es heute zu spüren: Deutschland ist wieder wer. Auf der Geburtstagsfeier im Roten Rathaus, die der Regierende Bürgermeister für die Geborenen am Tag des Mauerfalles gab, hätten Deutschtümler ihre wahre Freude gehabt. 86 Mädchen und Jungenhatten gerade „Happy Birthday“ erklingen lassen, da forderte Eberhard Diepgen sie auf: „Jetzt nochmal auf Deutsch.“

Aber Diepgen ist eben keine rechte Respektperson. Und so veranstalteten die Kinder in Begleitung von drei anderen Clowns lieber eine Polonaise zum Festsaal, in dem eine große Torte auf sie wartete. Dort biederte er sich mit den Worten an: „Ich habe auch eine Tochter, die heute Geburtstag hat.“ Dabei zählt das gar nicht, denn Tochter Anne ist schon über zwanzig. Außerdem ist sie, anders als die vielen lieben Kinderlein stinksauer“, weil ihr Vater sie in der Nacht der Grenzöffnung nicht geweckt hat.

Zu guter Letzt versprach Diepgen selbstbewusst, die Kinder in fünf Jahren wieder ins Rote Rathaus einzuladen. Dann wurde die Gesellschaft mit Autos der deutschen Traditionsmarke VW zum VW-Forum Unter den Linden gefahren. Ein Sprecher begründete das Engagement mit dem Eingeständnis: „Dann haben wir treue VW-Kunden, und darauf freuen wir uns.“

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Demonstrieren mit 40 Leuten? Ausgerechnet am Tag des 9. Novembers 1999, an dem Menschenansammlungen nach 100.000enden gezählt werden? Wer das macht, hat ja wohl das Einmaleins des Demonstrierens nicht gelernt, oder? Die Initiative gegen SED-Unrecht hat es versucht. Und immerhin schaffte sie es, für eine halbe Stunde den gesamten Ku'damm lahmzulegen.

Allerdings war den Demonstranten ihr Protestzug selbst nicht geheuer. Bei ihrer letzten Demo am 3. Oktober waren sie noch 300 gewesen. In Anbetracht der geringen Beteiligung stimmten sie nun darüber ab, ob sie nicht lieber einpacken sollten. Die Mehrheit war der Meinung, das ihnen widerfahrene Unrecht, wie Enteignung und Kündigung aus politischen Motiven, dürfe nicht unter den Teppich gekehrt werden. Berlin sollte wachgerüttelt werden.

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Ob der Vorsitzende des DGB Dieter Schulte wusste, was geschah, als er gestern mit Grippe im Bett lag? Lag es an seiner kurzfristigen Absage, dass auf einmal beim DGB sexuelle Aufklärung angesagt war. Anlässlich des Jahrestages waren Jugendliche ins Gewerkschaftshaus geladen worden, denen DDR-Propagandafilme gezeigt werden sollten.

Es ging um die „ersten verwirrenden Erlebnisse“ junger Menschen. Männer wie Walther Ulbricht klärten das Volk auf: „Wenn also die Jugend weiter ihre Körperkultur betätigt, wird es gut vorwärts gehen.“ Um Aufklärung war auch Dieter Scholz, Vorsitzender des DGB Berlin-Brandenburg, bemüht, denn viele Schüler hatten vom DGB noch nie etwas gehört. Die Jugend langweilte sich. Honecker und Krenz mit Papphut waren aufklärerischer.

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Berlin platzte zwar gestern fast vor Stolz, aber noch nicht aus allen Nähten. Die Zimmerauslastung des Hotel-und Gaststättengewerbes betrug 60 Prozent. Mehr als sonst ist das schon. Normalerweise liegt die Auslastung im November bei 45 Prozent. Die Berlin Tourismus Marketing (BTM) hat schon seit Monaten mit dem zehnjährigen Jubiläum geworben.

Als beste Werbung erweist sich aber die Vorstellungskraft der Besucher. Natascha Kompatzki von BTM erzählt, dass viele Besucher sich auf die Reste der Mauer freuten. „Die sind dann enttäuscht, weil nicht mehr viel zu sehen ist.“ Die Mauer ist auch der Renner bei den Souvenirjägern. Als „absolutes Highlight“ gilt die Mauer in Plexiglas gegossen als Schlüsselanhänger.

tde/plu/kah/jan/wahn/rol