Alle haben Angst“

■  Fall Colonia Dignidad: Der chilenische Anwalt Hernán Fernández und der Ex-Colonia-Bewohner Wolfgang Kneese werfen der Bundesregierung vor, im Kampf gegen die Sekte untätig zu bleiben

taz: Herr Fernández, Sie vertreten zwölf chilenische Kinder, die von Paul Schäfer, dem Führer der deutschen Colonia Dignidad in Chile, sexuell missbraucht worden sein sollen. Deutschland hat die Colonia Dignidad bislang eher als chilenisches Problem aufgefasst. Zu Recht?

Hernán Fernández: Nein. Deutschland steht in der Schuld der Opfer. Die deutsche Justiz war schwach, als sie Schäfer seinerzeit entkommen ließ, als er hier in Deutschland wegen Kindesmissbrauchs angeklagt war, und sie war danach unfähig, die Opfer zu schützen. Er hat sie einfach mitgenommen. Während Schäfer in Chile mit dem Menschenmissbrauch weitermachte, hatte er hier in Siegburg in der „Privaten Socialen Mission“ ganz offen seine Leute – sie wurden in Ruhe gelassen. Mehr noch: Deutsches Geld hat die Colonia Dignidad aufbauen geholfen, dieses Monster, mit dem wir es heute zu tun haben.

Die Reihe der Unterstützer ging bis zu Franz Josef Strauß. Hat sich die Position der deutschen Regierung, deren Botschaft in Chile die Colonia Dignidad viele Jahre lang vor allen Anfeindungen schützte, tatsächlich grundlegend verändert?

Fernández: Tatsache ist, dass es eine große Indifferenz gegenüber dem Schicksal der deutschen Staatsbürger gibt, die innerhalb der Colonia Dignidad leben. Die Kinder der deutschen Kolonisten sind weiterhin Paul Schäfer ausgeliefert. Sie sind besonders verwundbar, denn ihre Eltern gehören zur Sekte – sie sind nicht in der Lage, ihre Kinder zu schützen. Wenn dann argumentiert wird, man könne nichts tun, bis nicht die Eltern oder die Kinder selbst um Hilfe bitten, dann ist das eine komplette Ignoranz gegenüber den Charakteristika einer Sekte – und eine Verletzung der Rechte der Kinder auf Schutz.

Die frühere Kohl-Regierung und die Bonner Staatsanwaltschaft, bei der mehrere Verfahren gegen die Colonia in Deutschland anhängig sind, haben immer betont, man vertraue voll auf die chilenische Justiz und respektiere auch deren Autonomie. Ist das nicht eigentlich auch richtig so?

Fernández: Respekt gegenüber der Autonomie der Justiz ist das eine – völlige Indifferenz und Desinteresse an dem, was sie tut, ist etwas anderes. In Deutschland gibt es zum Beispiel einige Dokumente, die beweisen helfen könnten, dass es sich bei der Colonia Dignidad um eine kriminelle Vereinigung handelt. Aber die muss die chilenische Justiz auch bekommen! Es wurde aus Deutschland nicht einmal darauf hingewiesen, dass es so etwas gibt. Wenigstens das könnte man doch machen!

Hat der Regierungswechsel vor einem Jahr denn Bewegung in die deutsche Position gebracht?

Fernández: Die Menschenrechtsverletzungen und der Kindesmissbrauch in der Colonia gehen weiter wie früher. Das ist vor allem ein Fehler der chilenischen Behörden – aber die deutsche Indifferenz gegenüber dem Thema macht es ihnen sehr leicht.

Wolfgang Kneese: Wir können nicht feststellen, dass die Regierung irgendetwas tut, was die Sache voranbringen würde. Es ist, als wenn jemand seit Jahren versucht, einen Baum zu fällen, dabei aber die Säge verkehrt herum hält. Er klagt dann, dass alles sehr anstrengend ist, aber der Baum ist noch immer nicht angesägt. Paul Schäfer muss die Aktivitäten der deutschen Regierung nicht fürchten.

Immerhin hat ein deutsches Gericht im Sommer dieses Jahres entschieden, dass Schäfer keinen neuen deutschen Reisepass mehr bekommt. Das ist doch schon was.

Fernández: Als Anwalt der Opfer habe ich ein Problem mit der Position der deutschen Regierung, die einfach nur die Erklärungen der chilenischen Justiz akzeptiert, sie würde alles tun, um Paul Schäfer vor Gericht zu bringen – obwohl sie das eben in Wirklichkeit gerade nicht macht. Die deutschen Behörden müssen sich viel ernsthafter um das Thema Colonia Dignidad kümmern. Die Verlierer in diesem Spiel sind die Opfer.

Was sollte die Bundesregierung nun tun?

Kneese: In jeder Regierung gibt es Fachleute, die sich in Krisensituationen zusammensetzen, um in einer akzeptablen Zeitspanne eine Lösung zu finden und den Menschen zu helfen, die in Not geraten sind. Warum gibt es bis heute keinen deutsch-chilenischen Krisenstab, der versucht, den Weg zur Lösung des Gesamtproblems Colonia Dignidad zu finden? Auch vor Ort in Chile sind nicht die besten Beamten aus Deutschland.

Wie verhält sich denn der deutsche Botschafter?

Fernández: Mein Eindruck ist, dass man vor der Colonia Dignidad Angst hat. Angst vor den Gerichtsverfahren, die die Colonia ständig anstrengt. Um nicht verklagt zu werden, macht man nichts, was die Colonia Dignidad stören könnte. Und Angst vor der ungebrochenen ökonomischen Macht der Colonia. Immerhin ist Colonia Dignidad in Chile die mächtigste kriminelle Vereinigung, stärker noch als der Drogenhandel. Sie hat mehr Geld, hat mehr Leute bestochen. Sie ist in Chile in alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereiche vorgedrungen. So unternehmen auch die chilenischen Behörden nur halbherzige Anstrengungen – und so folgt dem Diskurs nie die Tat. Interview: Bernd Pickert