Tour-Tagebuch
: Rock'n'Roll, Aids und jede Menge Vitamine

■ Die Bremer Band „missing link“ hat eine einwöchige Konzert-Tournee durch Weißrussland gemacht. Bandgitarrist Jakob Nebel hat die abenteuerliche Reise in einem Tagebuch dokumentiert. Teil 2: Müde Männer, tobende Frauen, bemalte Bäuche

Als einzige deutsche Band hat das Bremer Quintett „missing link“ im Oktober an einem internationalen Jugendfestival in der weißrussischen Hauptstadt Minsk teilgenommen. Organisiert hatten das Festival der Deutsche Bundesjugendring in Kooperation mit den schweizer und weißrussischen Partnerorganisationen. Bereits als Zivi war Bandgitarrist Jakob Nebel mehrmals in Russland und konnte bei der Gelegenheit Kontakte zur dortigen Musikszene knüpfen, so dass „missing link“ an die Festivalteilnahme eine einwöchige Weißrusslandtournee knüpfen konnten. Die Reiseeindrücke hat Jakob in einem Tourtagebuch festgehalten, das wir in den kommenden Tagen in der taz dokumentieren. Neben Jakob gehören der Keyboarder Raphael, der Drummer Til, Bassist Felix und Sänger Sebastian zur Band. Außerdem dabei: Der Tourbusfahrer Jochen und drei Fernsehjournalisten des Hannoveraner Senders TVN.

Donnerstag, 7. Oktober

10 Uhr: Als ich versuche, Vlad oder Sergej über unsere Verspätung und darüber, dass der erste Gig wohl geknickt werden muss, zu unterrichten, hat das Handy prompt kein Netz mehr. Jochen, durch nichts zu stoppen, gibt, zu unser aller Freude & Entsetzen (des Risikos wegen) bekannt, er würde nun ohne Pause durchfahren! Spricht's und startet durch zur letzten Zitterpartie. Till und die Kerle von TVN halten ihn im Schichtwechsel mit Quizfragen über Pippi Langstrumpfs Weggefährten und mit sehr viel Kaffee wach. Und tatsächlich erreichen wir nach vier Stunden Fahrt die Stadtgrenze von Minsk. Außer mir hatte damit, glaube ich, kaum noch jemand gerechnet. Eins nehmen wir uns schon an dieser Stelle vor: Dem alten Sack von Busunternehmer, der diese Fehlkalkulation in Sachen Fahrtzeit verzapft hat, bei unserer Rücckehr gehörig in den Arsch zu treten!

15 Uhr: Nahezu pünktlich treffen wir uns mit meinem Freund Sergej, der das heutige Konzert organisiert hat, am Platz der Unabhängigkeit. Was für ein Glücksgefühl, die doch jetzt diese altbekannten protzigen Monumentalbauten aus der Zeit des Sozialismus in mir hervorrufen. Bevor wir uns zum Konzertort begeben können, müssen noch bürokratische Maßnahmen ergriffen werden. TVN brauchen noch die Presseakkreditierung für Belarus. Also auf zur Deutschen Botschaft. Hier treffe ich auch zum ersten Mal leibhaftig Frank Rummelmann, meinen etwas schwerfälligen Ansprechpartner vom dt. Bundesjugendring und somit Kontaktperson für den Gig am Samstag beim internationalen Jugendfestival. Aus dem kurzen Gespräch mit ihm höre ich auch gleich heraus, dass sein Kontakt zu den Konzertveranstaltern in Mosyr, wo wir morgen spielen sollen, nicht gerade der „direktes-te“ ist, bleibe aber optimistisch. Der durchgeknallte Jochen hat schon wieder –ne Überraschung auf Lager. Nach 40 Stunden ohne Schlaf will er sich trotzdem noch unser Konzert antun, bevor er dann endgültig umfällt. Was den reitet, weiß ich auch nicht, aber mir soll's recht sein!

17 Uhr: Ankunft am Auftrittsort, der nicht wirklich die Uni ist, sondern viel besser: Der Szene-Club „Medium“, welcher tagsüber die Mensa eines riesigen Studentenwohnheims darstellt. Eine kuriose Atmosphäre also für uns, die wir eher „normale“ deutsche Clubs gewohnt sind. Das Motto des heutigen Abends ist übrigens „Stop Aids“. Sergej erklärt uns, dass die meisten dieser alternativen Szeneveranstaltungen unter einem Motto stehen müssen, damit in Regierungskreisen keiner Verdacht auf Opposition schöpft und das Konzert kurzfristig verbietet. Die Party morgen z.B., bei der Thomas, unser Regisseur, auch auflegen wird, hat bekloppterweise das Oberthema „Vitamine“.

Boris, unser Techniker, versucht nun, sich mit dem weißrussischen Tonmann über Anschlüsse und Aufstellung des Equipments zu verständigen. Dieser Mann hat offensichtlich ganz eigene Vorstellungen von der Positionierung einer Gitarrenbox. Zum Glück treffen wir an dieser Stelle auf seinen Assistenten Vadim, der gut Deutsch spricht und zudem sehr hilfsbereit und freundlich ist. Somit können die meisten Missverständnisse beseitigt werden.

19 Uhr: Der Soundcheck hat echt weißrussischen Charakter, will sagen, dauert jetzt schon über –ne Stunde. Unsere arme Minsker Vorband wird langsam nervös, da sich schon bald die Tore öffnen werden und die Jungs noch nicht einen Ton anspielen konnten. Als wir dann fertig sind, kommt Raphael mit blödem Grinsen auf uns Restliche zu und meint, wir sollten doch mal kurz raus schauen. Das tun wir dann auch und trauen unseren Augen nicht. Da stehen doch tatsächlich 500 Leute Schlange, und das anscheinend schon seit geraumer Zeit!

21 Uhr: Sergej kündigt unseren Auftritt an, wir stehen völlig müde, abgekämpft und ausgehungert (aber dennoch begierig aufzutreten) hinter der Bühne. Als wir diese dann endlich betreten, fängt die Menge an zu kreischen und zu johlen. Hier startet nun also unser „Rockstar-for-one-week-Programm“! Müdigkeit und Hunger sind vergessen, nur Raphael kämpft den ganzen Auftritt über gegen sein Keyboard, bzw. gegen die krassen Gliederschmerzen, die wohl die Nachwirkungen seiner Grippe sind. Heute morgen konnte er den Tee im Pappbecher nicht heben, das macht einem dann doch Angst. Die Stimmung ist echt umwerfend, das Publikum begegnet jeder Bemerkung von Sebastian und mir richtig euphorisch und springt, was das Zeug hält. Gegen Ende des Gigs lernen wir auch schon die nächste weißrussische Sitte kennen: Man scheint hier keine Zugaben zu kennen. So entfallen ganz automatisch zwei unserer „Smashhits“. Macht aber nix, weil die Menge (vor allem der weibliche Teil) trotzdem ohne Ende tobt und wir prompt die ersten Liebeserklärungen und Adressen zugesteckt bekommen. Man lässt uns gar nicht erst von der Bühne steigen. So werden also von hier aus eine halbe Stunde lang Autogramme auf Zettel, Poster, CDs, Geldscheine und nackte Bäuche gegeben. Endlich sehe ich eine Möglichkeit zur Flucht: Ich treffe meinen lieben Freund Vlad und seine Frau Aylona, mit denen ich mich bis zu unserem CD-Stand vorkämpfe. Von dort aus ist dann die nächste Stunde Autogramme fällig. Der absolute Hammer!

Irgendwann ist der Großteil des Publikums mit einem Mal weg und wir fühlen uns wie nach einem „ganz schön fetten Sturm“. Ich werde noch von einer der „Zettelschreiberinnen“ zum Tanz aufgefordert, dann machen wir uns ans Einräumen. Jakob Nebel

Das Quintett „missing link“, 1994 von einer Handvoll 15-Jährigen gegründet, gewann 1997 den Bremer Landesrockpreis, belegte beim Bundesrockpreis den dritten Rang und belegte 1999 mit seinem stilistischen Mix von Alternative/Crossover den zweiten Platz beim „live in bremen“-Contest. Bislang hat die Band zwei CDs herausgebracht.