Tour-Tagebuch
: Notlügen und die lustigen Sachen zu zweit

■ „missing link“-Tour, Teil 3: Bandgitarrist Jakob Nebel erzählt über ungeahnte Müdigkeit und Altersgenossen, die gegen Diktatoren kämpfen

Eine Woche lang tourte das Bremer Quintett „missing link“ durch Weißrussland. Eingeladen hatten die Jugendringe aus der BRD, der Schweiz und Weißrussland, die in Minsk ein Jugendfestival organisiert hatten. Mit auf der Reise: neben den Bandmitgliedern (Gitarrist Jakob, Keyboarder Raphael, Drummer Til, Bassist Felix, Sänger Sebastian) der Tourbusfahrer Jochen, Tontechniker Boris, sowie das Trio Thomas, Kersten und „Jkl“ vom Hannoveraner Fernsehsender TVN.

Donnerstag, 7. Oktober:

3 Uhr: Ankunft im Minsker Hotel „Sovjetskaja“, nachdem wir wie die Blöden rumtelefoniert haben, weil uns die lustigen Organisatoren vom Jugendfestival nicht zusammen in ein Quartier stecken wollten. Dieses Hotel ist von außen gar nicht als ein solches zu erkennen. Sieht genau wie die üblichen Wohnhäuser aus: Plattenbauten, meist zu mehreren in Blocks angelegt (so dass man auch eine schon mehrmals aufgesuchte Wohnung nie mehr wieder findet!). Wie die Steine fallen wir ins Bett!

Freitag, 8.Oktober

1. Versuch, nach Mosyr zu gelangen oder: der DJ-Abend

9.30 Uhr: Felix schmeißt uns aus dem Bett. Ich habe nicht gewusst, dass man so müde sein kann und schlafe im Stehen fast wieder ein. Aber egal, heute geht's gleich wieder rund, oder vielmehr raus, und zwar aus Minsk. Mosyr steht auf dem Plan, ungefähr 300 km von unseren Betten, in die wir wieder rein wollen, entfernt. Wenn man sich das Programm, das uns für den Tag dort vorliegt, anschaut, weiß man, dass wir das schon jetzt gar nicht mehr alles schaffen können. Ankunft ist laut Plan z.B. um 11 Uhr. Also machen wir uns schleunigst auf den Weg zur Deutschen Botschaft, um endlich zu erfahren, wo Mosyr überhaupt liegt. Doch zuvor noch kurzes Break zum Frühstücken. Und wie es sich für Wessis so zu gehören scheint, kehren wir erst mal bei McDonalds ein. Was dann TVN auch so verzückt, dass sie das Verlassen des Nightliners und das darauffolgende Betreten des Fast-Food-Mekkas gleich drei mal hintereinander wegdrehen!

11.30 Uhr: Endlich bei der Botschaft. Diese ist zwar Schirmherr des Auftritts in Mosyr, kann uns aber trotzdem leider nicht weiterhelfen. Dafür verbreitet der lustige Herr Scholz mit dem Dauergrinsen echt gute Laune. Wir treffen hier auch auf einen Kollegen von Frank Rummelmann (unserem Ansprechpartner des dt. Jugendrings in Minsk), der uns zu eben diesem führen will. So halten wir dann vor dem Palast der Jugend, in dem das Jugendfestival und somit unser morgiges Konzert stattfinden wird. Wie fast überall in Minsk ist auch die Gegend um den Palast sehr weiträumig angelegt. Das Gebäude steht als großer Klotz inmitten einer großen Rasenfläche, die unser Tourbusfahrer Jochen erstmal dreist kreuzt, um möglichst nah ran zu kommen. Wir treffen Frank. Der ist völlig aufgebracht und überhaupt ziemlich überfordert. Noch können wir es nach Mosyr schaffen, glauben wir. Wenn uns nur mal jemand sagen würde, wie wir dahinkommen. Landkarten scheinen hier zumindest für Deutsche nicht kaufbar zu sein, so tut zumindest Rummelmann.

Nach Mosyr telefonieren können wir nur vom Büro des weißrussichen Jugendrings RADA aus, also Thomas und ich hin. Auf dem Weg treffen wir Irina, eine Freundin von mir, die auch in Deutschland studiert. So sind wir zu dritt, als wir vom Gebäude des Jugendbundes aus den Kontakt zum heutigen Auftrittsort aufnehmen. Die Verantwortliche heißt Luba, ist Dolmetscherin und außerdem sehr freundlich. Wir ergreifen die Chance zur Notlüge und erzählen was von Motorschaden am Bus. Luba bleibt zuvorkommend und verschiebt den Termin auf Montag, was uns jetzt wirklich entlastet. Also zurück zum Palast der Jugend, derweil Thomas uns alle (vor allem aber TVN) für Sonntag zum gemeinsamen Kochen bei Irina einlädt, um ein paar persönliche Bilder zu bekommen. Irina selbst scheint das zum Glück auch o.k. zu finden.

16 Uhr: Treffen mit Sergej, meinem Freund und Organisator unseres Minsker Auftritts. Wir fahren zum Büro von POST, einer politischen Bildungsstätte für junge Menschen, die von Vlad, seiner Frau, Sergej selbst, seinem Bruder Valic und zwei weiteren Personen geführt wird. Alle sind um die 25 Jahre alt und versuchen seit Jahren wacker, die Opposition gegen Diktator Lukaschenkow unter den Jugendlichen zu stärken. Ich finde das wirklich bemerkenswert. Diese Leute sind nur geringfügig älter als wir, haben ihr Studium abgeschlossen, sind zum Teil schon verheiratet und wirken so viel erwachsener auf mich, scheinen ungleich mehr durchgemacht zu haben als wir. Nach alledem, was ich über Belarus erfahren habe, muss man hier einfach schneller erwachsen werden, sich ganz anderen Dingen schon sehr früh stellen. Das klingt jetzt beinahe pathetisch, aber diese sechs jungen Leute setzen ihre Existenz aufs Spiel, um nur ein klein wenig im Volk das Feuer gegen Lukas Regime zu schüren. Ich weiß nicht, wie viele Jugendliche in Deutschland die Courage hätten, für ein so entferntes Ziel unter solch einem Risiko zu leben, zu kämpfen. Aber vielleicht schätze ich da meine Generation auch falsch ein. Nachdem TVN ihr Interview mit Vlad beendet haben, essen wir beim einzigen „echten“ Italiener der Stadt.

21.30 Uhr: Des Thomas' große Stunde: Gleich wird er sich im Nobelschuppen „Titanik“ live & alive an die Turntables schwingen, wie er selbst sagt. Ab jetzt ist er für uns nur noch „der DJ“ (sehr zu seinem Leidwesen).

24 Uhr: Die Party wird langsam lustig, der Club ist zwar nicht gerade brechend voll, aber die Stimmung ist gut. Außerdem treffen wir auf mindestens fünf Leute mit missing link-Shirts vom Vorabend. Coole Sache! Anny, die Zettelschreiberin von gestern ist auch auf einmal wieder da. Als wir um 5 Uhr am Hotel ankommen, sind Till und ich so fertig, daß wir zu faul sind, die Stufen zu den Schlafräumen hoch zu kriechen. Wir beschließen deshalb, im Bus zu pennen.

Wenig später. Jochen wird schon wieder von einer fremden Macht geritten und startet durch zum einstündigen Trip durch die Stadt. Dahinter steckt wohl die Frau, die vorne neben ihm sitzt und mit der er lustige Sachen zu zweit vor hat. Jkl stürzt mit der Digicam in der Hand an meiner Koje vorbei. Ich höre nur noch: „Ist das schrill, Jochen und das Hühnchen, das muss ich filmen...ist das schrill!“ Jakob Nebel

Nach ihrer Gründung vor fünf Jahren hat das Crossover-Quintett „missing link“ an diversen Rockwettbewerben teilgenommen. 1997 gewannen sie den Landesrockpreis und belegten beim Bundesrockpreis den dritten Platz. Bislang hat die Band die beiden CDs „out of season“ und „ahead“ veröffentlicht.