Ärgerliches Jahrhundertbuch

Vor fünfzig Jahren erschien Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“. In Frankreich wurde es damals umjubelt und zugleich heftig angefeindet, auch von Albert Camus. Und doch sollte es nicht nur in der Bundesrepublik zu einem der Standardwerke der Neuen Frauenbewegung werden. Eine Rezension über drei zeitlich gestreckte Etappen von Frauke Meyer-Gosau

Simone de Beauvoirs Grundlagentext der Neuen Frauenbewegung habe ich am Strand gelesen – auf Mallorca. Es war Herbst, die Sonne glühte, tosendes Meer. Es waren die späten Sechzigerjahre, und ich ging noch zur Schule. Warum ausgerechnet „Das andere Geschlecht“ – als Badelektüre? Auf jeden Fall muss ich dem Buch Krimiqualitäten zugetraut haben, sonst hätte ich es gar nicht mitgenommen.

Leicht zu ahnen, dass die Lektüre da nicht lange standhielt. Denn daran wiederum erinnere ich mich genau: Wie das Lesen immer zäher wurde und die endlosen Buchstabenkolonnen auf den eng bedruckten Seiten kein Ende mehr nahmen. Wie ich zu blättern begann, mehrere Seiten überschlug, es schließlich mit einem neuen Kapitel versuchte, dann mit einem anderen, dann noch die letzten Seiten überflog – und es endlich wirklich ließ.

Es war nicht zu heiß auf Mallorca. Das verdammte Buch war einfach langweilig. Seine zweite Chance erhielt es, als die Neue Frauenbewegung sich manifestierte und prominente Frauen sich zum Schrecken der Republik im Stern unter der Schlagzeile „Ich habe abgetrieben“ outeten. Natürlich musste man – musste „frau“! – Simone de Beauvoirs „Anderes Geschlecht“ gelesen haben, die Bibel, auf die das alles letztlich zurückging.

Nein, es wurde nichts, es reichte nur bis Seite 430. Schuld beim zweiten Fehlversuch war aber nun nicht mehr die enttäuschte Hoffnung auf schlagende Enthüllungen zum Männer-Frauen-Desaster. Im Jahr 1974 ging mein Widerstand eher darauf zurück, dass ich mich mittlerweile an theoretischen Texten überfressen hatte, Marx, Lenin, Stalin, Mao.

Und da machte nun diese Frau ihr Buch auf mit wissenschaftlichen Disputationen zur Biologie der Frau, zu den Weiblichkeitsverkennungen der Psychoanalyse und, auch das noch, zum Historischen Materialismus. Gut achtzig Seiten unter der Überschrift „Geschichte“ und noch einmal hundert Seiten über historische Mythisierungen des weiblichen Wesens folgten. Geschlagene 264 Seiten musste man hinter sich gebracht haben, um zur „Gelebten Erfahrung“ – aber auch damit natürlich noch immer nicht zur eigenen Gegenwart – vorzustoßen. Was kein Wunder war, denn „Das andere Geschlecht“ war zu diesem Zeitpunkt bereits 25 Jahre alt, und die Skandale, die es 1949 bei seinem Erscheinen ausgelöst hatte, zählten längst zur Vorvergangenheit.

Schade. Denn was da unter einem enormen Wust von angelesener Gelehrsamkeit und akademischer Gestik verschüttet war, hätte auch mir damals doch immer noch eine Menge sagen und erzählen können. Ja – wäre da doch nur erzählt worden! Abweisend aber wurde dieser Text ja nicht etwa nur durch Beauvoirs von heute aus gesehen phallischen Ansatz auf ihren Gegenstand: ihre stolze Lust, sich in der scholastischen Form des wissensgemästeten Lehrwerks zu bewähren, die sich äußerst unglücklich dann auch noch mit der Lehrerinnenvorliebe für Redundanzen verkuppelte. Es war nicht zuletzt auch die Übersetzung, die das Buch so unverdaulich machte – „Ehe“, „Mutterschaft“, „Dirnen- und Hetärentum“: Wer wollte so einer standardisiert altbackenen Kapitelreihe folgen und sich davon noch etwas wirklich Neues versprechen? Etwas, was Albert Camus 1949 zornbebend ausrufen ließ, die Beauvoir habe „den französischen Mann lächerlich gemacht“, während andererseits tausende französische Frauen sie mit Briefen überschwemmten, die sie „ein Genie“ nannten, eine, „die unser Leben verändert hat“? Unglaublich.

Was Beauvoir durch Form und Gestus nicht schon selbst vergeben hatte, besorgten für deutsche LeserInnen die ÜbersetzerInnen. Doch viele, zu deren Pensum es damals gehört hätte, dieses Buch mit dem musealen Untertitel „Sitte und Sexus der Frau“ zu studieren, legten es so schnell wie klammheimlich wieder zur Seite. Doppelt schade! Denn die Neuübersetzung, die es nun seit 1992 gibt, zeigt nicht nur die grotesken Missdeutungen aus der Zeit des traditionellen Geschlechterkrieges. Hieß es nämlich 1952 im Schlussabsatz des Buches noch programmatisch „der Mann hat die Aufgabe, in der gegebenen Welt dem Reich der Freiheit zum Sieg zu verhelfen“, so erfährt man vierzig Jahre später, dass dies eigentlich die „Aufgabe des Menschen“ hätte sein sollen – ein kleiner Unterschied, der auf die Doppeldeutigkeit der französischen Vokabel l'homme zurückgeht und zugleich doch die Botschaft des gesamten Buches gut patriarchalisch wieder auf Kurs brachte.

Von der Korrektur derart politisch-strategischer Missgriffe abgesehen, lässt die neue Übersetzung aber auch Beauvoirs literarischen Stil jetzt plötzlich aufblühen, und dann steht so ein Satz da, ganz wie aus dem blauwollenen Kaschmirkostüm gesprochen: „Eine Frau allein wirkt immer etwas ungewöhnlich.“ Auch in der neuen Fassung handelt es sich beim „Anderen Geschlecht“ natürlich immer noch um ein Werk, dessen Autorin einen Beweis ihrer wissenschaftlich-philosophischen Reputierlichkeit antreten wollte. Was ja, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, weder ein Wunder noch eine Schande war und es damals vielleicht gerade erst ermöglichte, dass das Buch als eine ernst zu nehmende theoretische Einlassung überhaupt eine so weit gehende Beachtung erfuhr.

Vor allem aber ist die ermüdende Erfüllung wissenschaftlicher Formgesetze natürlich Ausdruck und Konsequenz von Beauvoirs zentraler Wunschidee. „Es ist nicht gesagt“, schreibt sie ganz am Ende, dass die „ 'Gedankenwelten‘ (der Frauen) anders sein werden als die der Männer, da die Frau sich befreien wird, indem sie sich mit ihnen gleichsetzt“. Um nichts anderes geht es ja letztlich in dem ganzen Eintausendseitenunternehmen, und das Buch selbst ist zugleich auch schon der Beweis für ihre These – und damit für viele Feministinnen ein Hauptärgernis. Denn der Leitsatz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ setzt ja voraus, dass die Unterschiede der Existenzweisen von Männern und Frauen kulturell und historisch bedingt sind, was heißt: Man kann sie, wenn man nur will, durch kollektive Anstrengung auch wieder ändern. Die Differenz zwischen den Geschlechtern drückt für sie damit nicht eine genuine, sondern eine vorübergehende, beeinflussbare Verschiedenheit aus.

Sehr zu Beauvoirs Erleichterung übrigens. Denn was die Frauen in ihrem „Weibchen“-Status kennzeichnet und von allem Wesentlichen ausgrenzt, kann sie nur als abscheulich und deprimierend empfinden. Ihr „dritter Weg“ aus der Geschlechterfalle heißt dem gegenüber: „Freiheit“ durch „Brüderlichkeit“ zwischen Männern und Frauen. Deren oberste Voraussetzung: die politische, juristische und kulturelle Gleichstellung der Frau. Die Vokabel „Brüderlichkeit“ selbst ist da schon verräterisch genug – „Schwesterlichkeit“ wäre umgekehrt ja gewiss kein Wert, unter dem Männer mit Frauen sich verbünden und sich womöglich selbst erkennen (lassen) wollten.

Beauvoirs Orientierung an männlich gesetzten allgemeinen Werten steht leider außer Zweifel für den, der ihr Werk gelesen hat. Aber was tut's denn eigentlich, da die Epoche der Bibeln ja, Gott sei Dank, endlich vorüber ist? Und wer genauer sehen will, „was die Menschheit aus dem menschlichen Weibchen gemacht hat“, kommt an diesem Buch auch heute noch nicht vorbei, gerade weil es so fleißig den in der Mitte dieses Jahrhunderts vorhandenen Wissensstand zusammengefügt hat und die Mystifizierungen „des Weiblichen“ unnachgiebig skeptisch beobachtet. Wenn es dann noch heißt: „Wir beurteilen die Institutionen nach den konkreten Möglichkeiten, die sie den Individuen bieten“, läßt sich ein moderneres Politikverständnis kaum denken.

Christentum, Marxismus und Psychoanalyse rechnet Beauvoir ohnedies längst unter die „Religionen“. Von seinen Such- und Sammelleistungen und der erstaunlichen Modernität seiner politischen An- und Absichten abgesehen, ist „Das andere Geschlecht“ heute aber natürlich vor allem ein historisches Zeugnis. Ich könnte das Opus auch jetzt noch nicht am Strand lesen, und als fixe Handreichung für den Geschlechterkampf taugt es noch weniger als vor 25 Jahren. Und doch hat es gerade durch die jüngeren feministischen Theorieschübe eine Art Krimiqualität gewonnen.

Auch der aktuelle Feminismus muss sich immer noch, immer wieder, an seinen Thesen abarbeiten: politische Gleichheitsintervention? Lob der Geschlechterdifferenz? Beide Seiten kommen da ohne Simone de Beauvoirs Jahrhundertbuch nicht aus. Auf die Dauer aber hoffentlich auch nicht ohne einander.

Frauke Meyer-Gosau, 49, Kritikerin und Essayistin, beschäftigt sich mit Gegenwartsliteratur und ist Lektorin des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt