Das Leben: ein Forschungsauftrag

Christa Schmidt montiert Michel Foucaults Theorien geschickt ins Erzählen ein. Ihr Roman „Eselsfest“ spielt das alte Spiel von Liebe und Tod noch einmal auf entschieden zeitgenössische Weise durch  ■   Von Klaus Modick

Die Dominanz der Sexualität in unserer Kultur, notierte Michel Foucault in seinem Essay „Zum Begriff der Übertretung“, sei ein vielschichtiges Phänomen – gebunden nämlich erstens an den Tod Gottes und die damit einhergehende ontologische Leere; gebunden zweitens an das Aufkommen einer Denkform, in der Fragen nach der Grenze anstelle der Suche nach der Totalität getreten seien und in der Grenzübertretungen den Gestus des Widerspruchs abgelöst hätten; drittens sei sie gebunden an die Selbstinfragestellung einer Sprache, die die – vormals skandalöse – Gewaltsamkeit erotischer Literatur nicht aufbreche, sondern im Gebrauch der Wörter offenbare.

Kennzeichnend für die moderne Sexualität sei nämlich, dass sie von de Sade bis Freud durchaus nicht die Sprache ihrer wahren Natur gefunden habe, sondern durch das Reden über sie denaturalisiert worden sei.

„Eselsfest“, der neue Roman der Berliner Schriftstellerin Christa Schmidt, ist ganz offensichtlich am theoretischen Reißbrett dieser Argumentation konstruiert worden und bekennt sich auch durch diverse, direkte Bezugnahmen auf Foucault zu seiner philosophischen Vaterschaft. Und obwohl wir es also mit einem dezidierten Ideen- und Thesenroman zu tun haben, ist der Autorin das beträchtliche Kunststück gelungen, dies theoretische Unterfutter entweder völlig in ihre Erzählung einzuschmelzen oder zumindest doch so geschickt und folgerichtig ins Erzählen einzumontieren, dass die Fiktion nur ganz selten von leicht oberseminarhafter Dozierlust verschattet wird.

Allerdings gehören diese Theorieobsessionen auch wiederum und folgerichtig zur Erzählung, fungiert in ihrem Mittelpunkt als Hauptprotagonist doch ein Philosophiedozent namens Konstantin Escher, der eine Pendel- und Spagatexistenz zwischen dem urbanen Berlin und einem Landhaus vor den Toren Kölns führt. Dieser Escher arbeitet an einem Vortrag über das Verhältnis von Sexualität und Tod, wobei er von Foucaults Satz ausgeht: „Auf dem Grunde seines Träumens trifft der Mensch seinen Tod.“ Der Satz bildet die Stimmgabel für den gesamten Roman, der das alte Thema von Liebe und Tod noch einmal durchspielt, allerdings auf entschieden zeitgemäße Weise.

Der Philosoph Escher hat sich angewöhnt, seit seiner Scheidung das „Leben als eine Art Forschungsauftrag zu sehen“. „Die Rolle des enttäuschten Liebhabers“, heißt es einmal, „hatte ich gegen die Perspektive des Zeugen eingetauscht. Tatsächlich fühlte ich mich manchmal wie ein Forscher, der ins Labor kommt, seine Versuche macht und wieder geht.“ Und diese Versuche sind im Wesentlichen solche in Sachen Sex, insofern Escher seine sadomasochistischen Neigungen auslebt. Als er jedoch die Übersetzerin Alva kennenlernt und sich auf der Stelle in sie verliebt, wird er wieder vom beobachtenden Zeugen zum Teilnehmer – zum Teilnehmer eines Karnevals der Lüste, Begierden und Perversionen. Die Autorin führt ihre Figuren durch die einschlägigen Szenen und Kneipen des Berliner Nachtlebens, wobei Bilder von greller Eindringlichkeit und ätzendem Sprachwitz gelingen.

Der Titel „Eselsfest“ spielt auf den mittelalterlichen Ausnahmezustand an, in dem die antike Tradition der Saturnalien fortlebte: Alle erdenklichen Subversionen und Perversionen waren für die Dauer des Festes gestattet. „Eselsfest“, sagt nun jedoch im Roman Alva, „ist immer, nur nicht so harmlos.“ Das heißt nichts anderes, als dass der Ausnahmezustand heute zur Norm geworden ist, dass, wieder mit Foucault zu sprechen, in der Dominanz der Sexualität die permanenten Grenzübertretungen den Widerspruch ersetzt haben. Das Spannungsverhältnis von Liebe und Tod hat sich aller Romantik entledigt und ist zum Spannungsverhältnis von Sexualität und Tod geworden. Als er sich bei seinen sadomasochistischen Praktiken verletzt, sagt Escher folgerichtig: „Die Befürchtung, zeugungsunfähig zu sein, peinigte mich mehr als die Angst vor Krebs.“

Liebe und Tod sowie Kunst und Leben waren die Kraftfelder, aus denen sich der Ästhetizismus der Jahrhundertwende speiste, und die Fin-de-Siècle-Literatur unserer bevorstehenden Jahrhundertwende greift diese Themen erneut auf. Christa Schmidts Roman hat auf den ersten Blick eine gewisse thematische Nähe zu den erfolgreichen Erzählungen Judith Hermanns. Während diese es sich jedoch sprachlich wie inhaltlich im Schmelz und Sentiment eines aktuellen Dekadenzgefühls gemütlich machen, verfolgt Christa Schmidt eine ganz andere Erzählstrategie. Denn „Eselsfest“ ist, anders als ein konventioneller Roman so genannten prallen Erzählens, eher ein kühl kalkulierter Figurenessay auf der Suche nach einer Sprache der Sexualität, dessen sezierende Künstlichkeit ohne Dekor und Ornament auskommt und insbesondere ohne jedes Sentiment.

Dass es Christa Schmidt dennoch gelingt, unter diesem unterkühlten Gestus von dem zu erzählen, was es heute vielleicht nur noch als Abwesendes, als Klischee oder als Selbstillusion gibt, nämlich die so genannte menschliche Wärme, die Liebe sogar als unerreichbare Utopie und die damit korrespondierende Einsamkeit, die ontologische Leere Foucaults, macht gleichermaßen Reiz wie Leistung ihres klugen, manchmal spröden, oft aber auch wahrhaft komischen und anrührenden Romans aus. Christa Schmidt: „Eselsfest“. Knaus Verlag, München 1999. 220 Seiten, 39,80 DM