Vorboten eines goldenen Matriarchats

Von Nana-Power zu massenwirksamer Flower-Power: Das Ulmer Museum zeigt in einer Retrospektive, wie sich die üppige Figurenwelt der französischen Bildhauerin Niki de Saint Phalle aus Protest, Phantasie und sehr viel Liebe zusammensetzt  ■   Von Gabriele Hoffmann

Für Rotterdam ist gerade eine dreißig Meter hohe Riesen-Nana im Bau. Doch Niki de Saint Phalle, die künstlerische Urmutter einer über Generationen rein weiblichen Nachkommenschaft, hat sich nach Vollendung ihres „Tarotgartens“ im toskanischen Garavicchio 1996 aus Europa verabschiedet. Sie lebt heute im milden Klima Kaliforniens, das ihrer von Polyesterdämpfen geschädigten Lunge gut bekommt. Dort arbeitet sie zusammen mit Mario Botta an einer „Arche Noah“, einem Skulpturen-Park für Kinder in Jerusalem.

Es gibt im 20. Jahrhundert keine zweite Künstlerin, die so schockierend unmittelbar ihre privaten Lebenserfahrungen in künstlerische Arbeit umgesetzt hat wie die 1930 in Neuilly-sur-Seine geborene Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle. Wenn der Moderne gerne vorgeworfen wird, sie hätte ihr proklamiertes Ziel, die Einheit von Kunst und Leben, nicht erreicht, hier ist der Gegenbeweis. Das Ulmer Museum zeichnet jetzt den Lebensweg der Künstlerin von der schießwütigen Bankierstochter bis zur Erfinderin einer alle männlichen Weiblichkeitsideale „verschlingenden Mutter“ nach.

Niki zieht dreijährig mit ihrer Familie in die USA und lebt ab 1937 in New York. Auf der Klosterschule bekommt sie eine streng katholische Erziehung verpasst, vom Vater wird sie vergewaltigt. Mit achtzehn Jahren arbeitet Niki als Fotomodell für Modemagazine, brennt mit dem Musikstudenten und späteren Schriftsteller Harry Mathews durch, heiratet und bekommt eine Tochter. Ab 1952 lebt sie in Paris und studiert Theaterwissenschaften.

Zur Malerei kommt sie während einer psychotherapeutischen Behandlung nach einem Nervenzusammenbruch. 1960 trennt sich Niki de Saint Phalle von ihrem Mann, sie zieht zu Jean Tinguely. Die Ulmer Ausstellung beginnt mit einigen ihrer spektakulären „Schießbilder“ von 1961: Niki lässt ihre Freunde mit Gewehren auf Bilder zielen, die sie zuvor mit Farbbeuteln in der Gipsgrundierung präpariert hat, so dass die Farben sich in Strömen über die Bildfläche ergießen. Diese Aktionen, mit denen sich Niki de Saint Phalle ihren Aktionsraum quasi freischießt, finden begeisterte Zustimmung bei Tinguely und der von Pierre Restany gegündeten Gruppe der Nouveaux Réalistes. Gipsweiße Herzen aus Puppenschrott und aufgespießte Monster aus verdrahteten Nippes sind weitere Stufen ihrer Selbsttherapie nach erlittener männlicher Gewalt.

Mit den ersten vollplastischen Nanas aus Wolle und Stoff und den späteren Polyester-Nanas kehrt sich die Stoßrichtung um. Ihre prallen Körper mit grellfarbig akzentuierten Geschlechtsmerkmalen posaunen eine Lust am Weiblichen heraus, die selbst Feministinnen einiges Kopfzerbrechen bereitet. Vom korrekten Umgang mit Gender-Debatten sind diese rennenden und tanzenden weißen und schwarzen Frauenkörper mit den winzigen Stummelköpfen weit entfernt. Die Figur eines weißen Mannes mit Schlips als Sockel für eine schwarze Frau, die ihre Arme zum Fliegen ausbreitet – das ist Nikis Kommentar zum uralten Thema „Le poète et sa muse“.

Gleichzeitig gab es eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Tinguely: Ohne ihn hätten weder „HON“, die begehbare Riesenfigur einer Schwangeren für das Moderna Museet 1966 in Stockholm, noch die Monumentalplastiken für den „Tarotgarten“ (1979 – 1997) realisiert werden können. Tinguely war fasziniert von der Monstrosität solcher Figuren, für Niki selbst waren es „die Vorboten eines neuen matriarchalischen Zeitalters“, in dem sich die lebenslustigen Nanas mit männlichen „Crazy birds“, „Oiseaux amoureux“ und anderem Getier vergnügen sollen.

Zahlreiche Polyesterfiguren der Ulmer Ausstellung sind Multiples, die aus Modellen für den Tarotgarten hervorgegangen sind. Mit der Entscheidung, die 22 Tarotkarten dreidimensional in Szene zu setzen, sucht Niki de Saint Phalle nach einer Möglichkeit, das Menschengeschlecht durch ein glücklicheres Geschlecht zu ersetzen: Adam und Eva wird das Paradies zurückgegeben. Sie haben sich zum Picknick auf einer Wiese niedergelassen. Und weit und breit kein Baum der Erkenntnis.

Das Vergnügen an schwellenden Formen schlägt Mitte der Achtzigerjahre um ins Gegenteil. Die „Skinnies“ sind ätherische Wesen mit wulstigen Konturen um Leerräume. „Ich bin eine Schweizer Kuh“, sagt so eine Ausgehöhlte auf milkablauem Grund. In Kalifornien versucht die achtundsechzigjährige Künstlerin jetzt, getreu ihrem Kunst-gleich-Leben-Credo, mit viel Gold und Neopop dem amerikanischen Massengeschmack so nah wie möglich zu kommen. Leider mit gutem Erfolg – statt „Nana-Power“ goldverbrämte Flower-Power. Der erotisch besitzergreifenden, witzigen, esoterischen und politischen Niki de Saint Phalle kann man in Ulm derweil in gemalten und geschriebenen Briefen, Tagebuchblättern und Künstlerbüchern nachgehen. Bis 21. 11., Ulmer Museum. 26. 3. bis 14. 5. 2000 im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen. Der Katalog kostet 30 Mark.