Meine Hauptfigur heißt Person“

Privat kommt gut, Berlin ist zum Glück egal: Am Wochenende lasen 24 junge Schriftsteller beim Open Mike um die Wette. Der wahre Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb findet nicht in Klagenfurt statt, sondern in der Literaturwerkstatt Pankow  ■   Von Volker Weidermann

Es gibt da wohl gerade so eine Erzählbegeisterung im Land. Der Wille zum Schriftstellersein scheint größer denn je. Den Literaturwettbewerb Open Mike, der am vergangenen Wochenende zum siebten Mal in der Literaturwerkstatt stattfand, hätte die Text-Explosion in diesem Jahr beinahe gesprengt. Aus 733 Einsendungen hatte das sechsköpfige Lektorat im Vorfeld die 24 Jungautoren auszuwählen, die in Pankow lesen durften. In den Jahren zuvor waren es immer nur so 150 gewesen.

Das liegt natürlich einerseits daran, dass im Moment so viel geschrieben wird. Auf der anderen Seite liegt es aber an dem guten Ruf, den sich der Open Mike in den letzten Jahren erworben hat. Hier werden kommende Stars geboren: Karen Duve, Julia Franck, Terezia Mora gehörten in den letzten Jahren zu den Gewinnerinnen – spätere Bachmann-Preisträgerinnen, Fräuleinwunder, Spiegel-Covergirls. Haben alle hier ihren ersten Auftritt gehabt. So hat sich der Open Mike in den letzten Jahren den Ruf erworben, der Talentspähwettbewerb deutscher Nachwuchsliteraten schlechthin zu sein, bei dem noch echte Entdeckungen gemacht werden können: Hier werden nur unlektorierte, unveröffentlichte Texte junger Autoren bis 35 zugelassen, die noch kaum literarische Veröffentlichungen vorzuweisen haben. Und so ist der Open Mike auch wesentlich interessanter als der Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, der, vom Ruhm vergangener Tage gesättigt, inzwischen nicht viel mehr als ein Verlagsforum ist, das fertig lektorierte Bücher von Jungautoren noch mal schnell bepreisen lässt, um mit der Bachmann-Banderole ein paar tausend Exemplare mehr zu verkaufen.

Der Pioniergeist des Open Mike gibt dem Pankower Wettstreit eine oft sympathische, manchmal aber auch etwas peinliche Note: Die meisten der Jungautoren haben noch nie zuvor vor größerem Publikum gelesen und geben dann zum Beispiel merkwürdige Einleitungen („Meine Hauptfigur heißt Person. Beim Vorlesen klingt das total albern. Ich habe sie am Vorabend kurz gefragt, ob ich den Namen für die Lesung ändern darf. Sie hat abgelehnt. Bitte stören Sie sich nicht dran.“), fragen nach ihrem Auftritt unbeteiligte Nachbarinnen nach ihrer Wirkung („Die Stelle mit dem 'Fick dich ins Knie‘, kam die gut an? Ich hab es nicht genau sehen können“) oder verlesen ihren Text so rasant, dass kein Mensch im Publikum ernsthaft folgen kann.

Doch die meisten lesen äußerst professionell, und das Niveau der Texte ist in diesem Jahr insgesamt hoch. Einen Trend bei der jüngsten deutschen Gegenwartsliteratur festzustellen ist dieses Mal so schwierig wie all die Jahre zuvor: Ja, das Private, das ist immer noch eine Art Trend. Die Familie. Schwesterngeschichten, Elterngeschichten, Geschichten vom Erwachsenwerden. Stadtgeschichten auch. Explizite Berlin-Texte nach dem anstrengenden Hauptstadt-Hype der letzten Jahre zum Glück kaum noch. Berlin verlassen, in Richtung „Mainz, oder Wiesbaden“, das war dann schon eher ein Thema. Die 28-jährige Anke Stelling, die am Leipziger Literatur-Institut studiert, schloss ihren programmatischen Text zum Berlin-Auszug mit einem erstaunlichen „Wenn doch nur mal wieder Krieg wäre, mit Bomben, die das hier ratz, fatz wegräumen würden“. Hm. Das ist dann allerdings irgendwie nur noch halb privat. Dabei war sonst alles so familiär, dass selbst unser aller politischstes Jahrhundertthema freundlich privatisiert wurde: „Hitlervernichtung“ war der reißerische Titel einer Erzählung von Jörg Matheis aus Mainz, die von einem selbstzweiflerischen Morgen im Leben Adolf Hitlers handelte und von dessen Wunsch, ohne Bärtchen zu leben. Dafür gab's keinen Preis.

Immerhin einen Kosovo-Text hatten die Lektoren untergebracht, der allerdings so krude und rätselhaft blieb, dass man vermuten muss, hier sollte mit aller Macht irgendwas aktuell Politisches in den Wettbewerb gehoben werden.

Die mit dem Büchner-Preisträger Arnold Stadler, Birgit Vanderbeke und Kathrin Schmidt hochkarätig besetzte Jury, die „zwei tolle Tage“ in Pankow verlebt hatte, wie Vanderbeke resümierte, traf schließlich fast unumstrittene Preisentscheidungen. In Pankow, wo stets betont wird, dass eigentlich „alle 24 Eingeladenen schon Preisträger sind“, werden alljährlich drei erste Preise vergeben, die mit je 3.000 Mark dotiert sind: Einer ging an die 28-jährige Almut Tina Schmidt, die in Freiburg über Erwin Strittmatter promoviert hat und unter dem Titel „Doppeltes Spiel“ eine recht unscheinbare Erzählung vorgelegt hatte, die wir nicht unbedingt prämiert hätten. Auch wenn der Lektor Urs Engeler beim ersten Lesen ein „heiteres Knistern“ verspürt hatte.

Unumstritten verdiente Preisträger waren dagegen der Schweizer Michael Stauffer, der mit „Schwan und Brot“ eine großartige Schwanenvernichtungsfantasie verlas und zur Gründung von Pro-Haubentaucher-Vereinigungen aufrief, und der Berliner Informatiker und Übersetzer Jochen Schmidt. Schmidt las eine schöne, leichte, lustige, traurige, traditionell gebaute Erinnerungsgeschichte an Harnusch, einen alten Bauern, der zu DDR-Zeiten griesgrämig von seinem verflossenen Gut in Polen träumt, die neuen Zeiten verachtet, die Menschen beschimpft und mit seinen Erinnerungen nervt und sich langsam aus dem Leben schwadroniert. Ein sehr schöner, irgendwie aus der Zeit gefallener Text. Und von Jochen Schmidt wird man noch hören. Nächstes Jahr in Klagenfurt? Nächstes Jahr in Klagenfurt.