Nichtstun ist auch ein Ereignis

■ Die Einsamkeit der Päderasten: An der Humboldt-Universität unterhielt man sich drei Tage lang über den russischen Minimalismus zwischen Demokratie und Verzweiflung

Drei Tage lang veranstaltete das Institut für Slawistik der Humboldt-Universität unter der Leitung von Georg Witte, dem einzig wahren Slawistikprofessor zu Berlin, ein internationales Symposium: „Minimalismus – Zwischen Leere und Exzess“.

Die Veranstaltung beschränkte sich vor allem auf die russischen Minimalisten. Deswegen wurden viele russische Gäste eingeladen. In einer kurzen Vorrede verherrlichte der Professor das Minimum und verunglimpfte das Maximum, indem er Letzteres als „grafomanen monumentalen Exzess und sensorische Ekstase des Visuellen und Taktilen“ bezeichnete.

Danach eröffnete der stellvertretende Chefredakteur des russischen Männermagazins XXL, Wladislaw Kulakow, das Symposium mit seinem wissenschaftlichen Aufsatz „Minimalistische Reduktion – der Sinn der Sache“. Er sprach von der Krise der Position des Autors, über die Entstehung eines neuen Autorentypus und zitierte Nekrassow: „Der Künstler rechnet mit der Künstelei ab.“ Gerald Janecek aus New York widmete seinen Aufsatz „Die Poesie des Schweigens bei Gennadi Aigi“ dem berühmten „Poem des Endes“ von Wasilisk Gnedow: eine Überschrift auf einem leerem Blatt Papier.

Raoul Eshelman sprach von der Befreiung des Individuums durch eine Bewusstseinsreduktion. Helena Poldjaewa, die Hüterin des Prokofjew-Archivs, das irgendwo in London bis zum Jahr 2003 unveröffentlicht bleiben muss, sprach über die Zwölftonharmonie ohne Verdoppelung – als einem Weg von der Reduktion zum Globalismus. Beendet wurde das Symposium mit dem Aufsatz von Sylvia Sasse „Nichts tun – auch ein Ereignis?“

Insgesamt äußerten sich 21 Wissenschaftler zum Thema Minimalismus. Die Zeit der russischen Avantgarde wurde analysiert, Parallelen zur heutigen Situation wurden gezogen, doch eigentlich ging es um die Zukunft. Wie verändert sich die Kunst? Wer ist der Künstler von morgen? Und wie geht es weiter?

Der Kunst wird ihr besonderer Stellenwert immer mehr entzogen. Die demokratische Gesellschaft bestimmt den Wert eines einzelnen Individuums allein durch die Tatsache seiner Existenz. Sie ist nicht fähig, darüber hinausgehende kulturelle Forderungen an ein Individuum zu stellen. Das Gegebene ist wertvoll. Nicht das Vorgegebene. Die Aufgabe der Kultur bleibt in so einer Gesellschaft kumulativ und widmet sich allein der physischen Vermehrung des Daseins.

Die klassische Kunst der Vergangenheit kämpfte mit der Materie, versuchte sie zu verschönern und total zu organisieren. Sie war ideologisch. Die Demokratie lehnt Weltanschauungen ab. Sie ist nur mit der Lösung der laufenden Angelegenheiten beschäftigt.

Die Natur produziert ihre Kunstwerke wie am Fließband – die ständige Wiederholung des Prototyps. Der klassische Künstler ist dagegen ein Bastler. Er ist davon überzeugt, dass die schöpferische Kraft, die seine Werke hervorbringt, seine eigene ist, dass er aus dem Nichts schöpft. Die Kunst eines Menschen ist nicht der Übergang in eine andere, bessere Welt, sondern die Fähigkeit, auf dem Eigenen zu bestehen, und die Anderen zu zwingen, die eigene Hässlichkeit zu bewundern.

Die mystische Ernsthaftigkeit dieses schöpferischen Tuns gehört der Vergangenheit an. In der Demokratie ist die Kunst jeder anderen Tätigkeit gleichgestellt, die etwas Anstrengung verlangt. Die eigentliche Aussage der Minimalisten ist: Man darf ein Kunstwerk nicht als feststehende Konstruktion begreifen. Man darf keine langen, dicken Romane über den Krieg und den Frieden schreiben, die man nur auf dem Sofa liegend lesen kann. Der liegende, unbewegliche Mensch gehört der totalitären Vergangenheit an, die großen Romane sind gut für den Knast, die Datsche oder den Bunker.

Die Zeit der Genies ist vorbei. Ein Genie wird in der demokratischen Gesellschaft schon in der Wiege umgebracht, ohne Blutvergießen, auf feine Art: Der Mensch wird schlicht nicht mehr zur äußersten Verzweiflung getrieben. So wird aus der Vielfalt des Genies die Einsamkeit des Päderasten, das eintönige Dasein eines von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Erniedrigten.

Die wirkliche Vielfältigkeit, der konkrete Reichtum des Lebens, bringt Spießer hervor. Die hohe klassische Kunst ist genauso abstrakt, ausgetrocknet und unlebendig wie die Wissenschaft mit ihrer Vorliebe für Mathematik, Benennung der Quantitäten und Vernachlässigung der Qualität, wie die industrielle Zivilisation, die die Natur erdrückt. Nun ist die Mythologie der Wissenschaft entlarvt, die Industriegesellschaft hat in vielen fortschrittlichen Ländern als Zukunftsmodell ausgedient. Nur mit der Kunst wurde bisher noch gezögert.

Der Künstler von morgen betrachtet seine Arbeit nicht als erhebende Alternative zum Leben. Er verneint die hohe Kunst nicht, doch er kennt die Formel von Hegel: „Weisheit ist kein Ergebnis, sondern ein Prozess“.

Der Mensch, der mit dem Prozess vertraut ist, wird für immer zu jedem Ergebnis ironisch stehen. Es gibt keine Ergebnisse. Der Kanzler wird alle vier Jahre neu gewählt, und das Leben geht trotzdem weiter. In seiner ganzen minimalistischen Beschränktheit.

Wladimir Kaminer