Lächeln über die Risse in der Welt

Seinlassen als strategisches Denken: Schon Laotse empfiehlt, das Nichts zu tun, denn dann gibt es nichts, was nicht geschieht. In seinem Buch „Über die Wirksamkeit“ rückt François Jullien nun asiatische Philosophie in die Nähe moderner Systemtheorie  ■   Von Dirk Baecker

Der Chinese ist durch und durch Empiriker – so sehr, dass es nicht einmal dieses Begriffs bedarf

„Wir bedenken das Handeln noch lange nicht entschieden genug.“ So lautet der erste Satz jenes Briefes „Über den Humanismus“ von Martin Heidegger, an den Peter Sloterdijk mit seinem vor kurzem so heftig diskutierten Vortrag noch einmal erinnert hat. Und Heidegger fuhr fort: „Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen.“ Jeder Humanismus, so Heidegger und Sloterdijk mit ihm, denkt den Menschen als die Ursache jenes Handelns, das auf das Bewirken einer Wirkung zielt. Damit ist der Mensch fest eingebaut in den Kausalzusammenhang der Welt. Zugleich jedoch ist er frei, wenn es ihm gelingt, für sich selbst keine weiteren Ursachen zuzulassen als sich selbst. Der Mensch ist humanistisch das unbedingt sich selbst Bedingende, und jedes Scheitern in diesem Anspruch auf die Letztursache ist ein Scheitern des Menschen selbst.

Dass dies eine außerordentlich heroische, ja spektakuläre Auffassung vom Menschen ist, macht nicht nur jeder Blick auf seine imaginäre Verwirklichung im Renaissance-Menschen deutlich, dem Benvenuto Cellini ein leuchtendes Denkmal gesetzt hat. Auch ein Blick in andere Kulturräume kann zeigen, wie ungewöhnlich, weil unrealistisch und maßlos, eine solche Auffassung ist. Wie man das Handeln „entschieden genug“ bedenken und aus diesem überzogenen Anspruch auf Selbstverursachung befreien kann, führt jetzt das Buch „Über die Wirksamkeit“ des französischen Philosophen und Ostasienkenners François Jullien vor, das der Merve Verlag soeben auf deutsch verlegt hat.

Für die Kronzeugen Julliens, vor allem Laotse, Suntzu, Menzu und andere, aber auch Konfuzius, ist das Handeln des Menschen tatsächlich kein Bewirken einer Wirkung, sondern ein Vollbringen. Allerdings handelt es sich um ein Vollbringen im Sinne der Entfaltung des Potenzials einer Situation, die vom Handeln nicht viel mehr verlangt als die bisweilen minimale Geste eines Mitvollziehens oder einer leichten Wendung. Für die Chinesen agiert der Mensch nicht als Verursacher einer von ihm nicht nur geschaffenen, sondern auch gewollten (freilich: so dann jeweils doch nicht gewollten) Welt. Sondern er agiert als jemand, der die Wirkungen, die in einer Situation angelegt sind, geschehen lässt und das Potenzial der Situation zu nutzen versteht. Jean Baudrillard hat einmal die schöne Geschichte des taoistischen Metzgers von Dschuang-Dsu erzählt, der sein Messer, ohne es je nachschleifen zu müssen, jahrzehntelang benutzte, weil er nie Knochen, Sehnen, Muskeln schnitt, sondern immer nur in den Zwischenräumen trennte, was schon getrennt ist. Er half dem Fleisch auseinanderzufallen.

Dieses Vollbringen, das kein Handeln im Sinne einer intentionalen Bewirkung einer Wirkung ist, nennt Jullien Transformation. Im Gegensatz zum Handeln, das immer so tut, als greife es von außen in eine Welt ein und mache aus ihr etwas, was sie von selbst nicht sein kann, eine heroische Geste, die nur durch Vergeblichkeitsgefühle und melancholische Resignation wieder geerdet werden kann und daher immer naiv wirkt, ist die Transformation von vornherein immanent gedacht. Die Transformation greift die Tendenzen einer Situation auf und gibt ihnen eine Wendung, die schon in der Situation angelegt ist und nur auf diese Transformation wartet, um stattfinden zu können. Im Kontext europäischen Denkens fällt es uns schwer, diesen Typ von Handeln, das kein Handeln ist, zu denken, denn beide griechischen Worte für Handeln, práxis und poiésis, zielen auf ein ganz anderes Verständnis. Die práxis ist das Handeln, das sich selbst genügt, ein abendlicher Spaziergang am Fluss. Die poiésis ist das Hervorbringen eines Werkes, das ohne diese Tätigkeit nicht entstehen könnte, ein unternehmerisches Handeln. Die chinesische Transformation ist keine Aktivität, weder in dem einen Sinne noch in dem anderen. Sie ist auch keine Passivität, die einfach geschehen lässt, was geschieht. Die chinesische Transformation ist eine Wirksamkeit, die sich mit dem Realen im Realen abspielt und keinerlei Abstand zu ihm sucht.

Das Verblüffende ist nun, dass mit diesem Denken keine Haltung kontemplativer oder gar spekulativer, also metaphysischer Weisheit beschrieben wird, sondern ein strategisches Denken im eminenten Sinne des Wortes, das keinen Moment davon ablässt, eine Situation produktiv werden zu lassen. Der Taoist lächelt nicht über die Welt, sondern in der Welt. Er spürt „Risse“ auf, wir würden im Kontext moderner Selbstorganisationsforschung von „Verzweigungen“, „Bifurkationen“ sprechen, an denen sich mit minimalem Einsatz die eine oder die andere Entwicklung mit ganz unterschiedlichen Folgen befördern lässt.

Das macht den Unterschied zwischen europäischem und chinesischem Denken aus: Der Europäer, geschult an Platons Ideen ebenso wie durch die christliche Transzendenz, geht von Zielen, Modellen, „Theorien“ jenseits der je aktuellen Situation aus und versucht alles zu tun, um den tatsächlichen Ist-Zustand der Welt auf den von ihm vorgestellen Soll-Zustand hin zu bewegen. Tatsächlich ist er empirisch vor allem damit beschäftigt, zu rechtfertigen, was er tut, und zu verstehen, warum es nicht gelingt, während die Welt Mittel und Wege sucht, das auftrumpfende Handeln zu verarbeiten. Der Chinese ist durch und durch Empiriker, so sehr, dass es nicht einmal dieses Begriffs bedarf, denn von „Theorien“ weiß er so wenig wie von „Methoden“, an die man sich halten müsste, um anders nicht zu erreichende Ziele dennoch zu erreichen. Der Chinese hat ein unendlich komplexes Kausalsystem vor sich, das offen ist für unendliche Kombinationen, in dem jedoch aktuell immer nur sehr wenig möglich ist und jedes Ereignis determiniert ist durch alle anderen.

So streng deterministisch denkt in Europa allenfalls die moderne Systemtheorie. Und genau wie für diese Systemtheorie ist auch für den Chinesen das freie Spiel der Ereignisse kein Einwand gegen diesen Determinismus, sondern das Medium, in dem er sich vollzieht oder „vollbringt“, um noch einmal Heidegger zu zitieren. Das alles muss den Humanisten gegen den Strich gehen, die ja gerade erst und mit Giambattista Vico den Menschen als Herrn der Geschichte eingesetzt haben und, um Auswüchse zu vermeiden, eine „Philosophie der Autorität“ (später dann: des „Engagements“) an die Stelle der „Philosophie der Vorsehung“ gesetzt haben. Diese Autorität besteht im freien Gebrauch des Willens, und genau darauf sieht der Mensch sich humanistisch dann wieder strenger festgelegt, als es jeder Priester je vermocht hat.

Der chinesische Weise lehnt jede Geschäftigkeit ab. Für ihn ist geschäftig nur, wer sich empirisch noch nicht ins Benehmen gesetzt hat mit der Welt um ihn herum. Und Laotse erinnert daran, dass der Geschäftige sich bemühen kann, wie er will, er wird um sich herum ein Feld des Nichts-Tuns schaffen, das ihn schließlich wieder einholt, weil er es selbst als die andere Seite seines Tuns mit hervorbringt. Laotse empfiehlt stattdessen, das Nichts zu tun, denn dann gibt es nichts, was nicht geschieht. Dass mit dieser Empfehlung keine Mystik ins Spiel gebracht ist, sondern eine sehr weitreichende Einsicht über das Entstehen von Formen, ist uns erst jüngst durch George Spencer-Browns Kalkül der Form wieder nahe gebracht worden. Aber wir sind weit davon entfernt, dies und uns so denken zu können. François Jullien: „Über die Wirksamkeit“. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin, Merve Verl. 1999, 288 S., 36 DM